Effectarium 11 - Mythos aufbauen

11. Dein Effectarium ein wenig ausweiten - wenig Aufwand, großer Effekt

 

Warum hast du dich eigentlich entschieden, Lehrer:in zu werden?

Doch sicher nicht, um als Dompteur vor deinen Klassen zu stehen und sie mit Noten und vielen Korrekturen auf Spur zu halten. Sonst hättest du dieses Büchlein schon längst wieder weggelegt. Deshalb lass mich doch mal weiterspinnen.

Angenommen, du fühlst dich soweit gut im Job. Angenommen, du hast deinen Arbeitsalltag - zusammen mit deinen Schüler:innen - so strukturiert, dass du das Gefühl hast, Zeit zu besitzen. Schullebenszeit.
Wenn du soweit bist, dann wäre es Zeit, zu sondieren.

Schon jetzt hast du es mit der aktiven Stärkung der Lambda Ebene erreicht, einen ersten Mythos um dich herum zu bauen. Immer gut drauf, kann gut mit den Schüler:innen, der Output an Leistung stimmt, die Abschlussnoten auch. 

Und warum? Weil du bewusst oder unbewusst auf sie zentralen und oberen Hattie-Faktoren setzt. Manche Lehrer:innen arbeiten von Beginn an in einem Effectarium. Lambda-Natives habe ich solche neuen jungen Lehrer:innen an meiner eigenen Schule damals immer bezeichnet und sie beglückwünscht. Weil sie sich natürlich so viel leichter tun in diesem Job als jene, die angestrengt ihr Fach anstatt erst einmal junge Menschen zu unterrichten und ihnen dann ihr Fach beizubringen.

Früher habe ich mich immer gefragt, ob man dieses Lambda hat oder eben nicht. Heute weiß ich: Lambda kann man lernen, Effectarium kann man sich bauen, Schule kann Lebensraum sein und viel Luft und Freiheit lassen. Man muss allerdings seine eigene Rolle bewusst und zusammen mit seinen Schüler:innen auf Erfolg ausrichten. Dazu gehört Feedback und zwar regelmäßig. Eierkarton mit Löchern oder so. Dazu gehören Klassengespräche und dazu gehört es, seinen Schüler:innen viel Freiraum zu verschaffen … aber auch Verantwortung abzuverlangen. Effectarium ist kein Kuschelraum mit Gute-Noten-Garantie. Effectarium ist für Lernende viel eigenverantwortliche Arbeit und für Lehrende die große Aufgabe, abzugeben und zu vertrauen. Und seinem eigenen Unterricht durch Feedback immer durch die Augen der Lernenden zuzuschauen. Effectarium ist ein Prozess, kein Zustand. Ein Effectarium muss im dauernden Austausch immer wieder optimiert werden. Aber da es sich am Ende auf beiden Seiten nicht als Arbeit anfühlt, sondern als große genussvolle Anstrengung, macht es den Kopf frei für zusätzliche Projekte, so man dies will.

Den kleinen zauberhaften Mythos in der Schule hat man sich schon erschaffen.

 

Bei neuen Projekten sollte man zu Beginn eine Zeitabschätzung vornehmen. Man sollte auch nicht gleichzeitig verschiedene Projekte beginnen. Konzentration auf ein Projekt gekoppelt mit einen funktionierenden Effectarium, das ist das Ziel. 

 

Ein außerunterrichtliches Projekt kann zwei Dinge bewirken: Den eigenen Mythos vergrößern und als Folge: Viele Aufgaben, die an Schulen übernommen werden müssen, kann man entspannt ablehnen, weil man ja selbst sowieso sehr viel unternimmt. Der Mythos schützt einen, auch vor dem eigenen schlechten Gewissen. Deshalb: Sag bloß nie: „Ach das war ja keine wirkliche Arbeit,“ nur weil du etwas gar nicht als Arbeit empfindest. Ein Effectarium zu erhalten fühlt sich natürlich nicht wie Arbeit an, ist eher ein Gefühl von „Vorne auf der Welle“ - aber erstens muss man es erst einmal schaffen, vorne auf die Welle zu kommen und dann muss man es ja nicht jedem auf die Nase binden, wie viel Zeit man sich dafür frei geschaufelt hat. 

 

Weil man hier jetzt in tausend Richtungen für eigene Projekte denken kann, überlasse ich diese Überlegungen dir selbst - nur eines dazu: Behalte immer dein Effectarium im Auge. Also Output muss stimmen, deine Schüler:innen und du: Ihr müsst euch wohl fühlen. Dann geht alles andere ebenso.

Starke Projekte können einen leicht mit Begeisterung hineinziehen … wenn man dann kein Effectarium mit dem entsprechenden Mythos besitzt, ist der „Ruf“ schnell dahin. Deshalb: Zuerst immer auf sich selbst achten, dann auf seine eigenen Schüler:innen und dann auf ein Projekt.


Da ich in einem späteren Kapitel auf ein spezielles klasseninternes Projekt, die SchüLehr:innen-Klassenzimmer zu sprechen komme, stelle ich dir hier noch ein außerunterrichtliches Projekt vor, das du sehr einfach und leicht als Besitzer:in eines funktionierenden Effectariums umsetzen kannst und dabei ruhig auch um eine Deputatsstunde Nachlass spielen könntest, denn dieses Projekt hilft allen - allerdings dir am meisten, weil du damit den Mythos rund um deine Arbeit noch einmal kräftig steigern kannst.

Da du aus deinem eigenen Klassenzimmer die Augenhöhe mit den Fachleuten der Zukunft gewohnt bisf, kannst du dies auch wunderbar auf die ganze Schule ausweiten. Ich spreche von einem Meta-Ebenen-Projekt namens „Vom Standstreifen auf die Überholspur“ oder „Raus aus der Falle“ oder „Projekt Reservetank“ oder „Gipfelstürmer“ oder „Wellenreiter“ oder „Rakete“ oder oder oder … nehmen wir hier mal als Arbeitstitel: „Den Joker aus dem Ärmel ziehen“. 

Ich schildere das hier einmal im Schnelldurchlauf, denn die Vertiefung kannst du bei Bedarf hier https://faust-digital.jimdofree.com/das-versetzungsprojekt/ oder auch hier im Archiv https://www.aufeigenefaust.com/brain/archiv-feedbackprojekte/ finden.

Also: Die allermeisten Schüler:innen spielen ihre vielen Fähigkeiten nicht wirklich aus - besitzen also immer einen Joker im Ärmel, den sie ziehen könnten. Speziell unter versetzungsgefährdeten Schüler:innen findet man ziemlich fette Joker im Ärmel, die man aktivieren kann, wenn man den richtigen Einstieg dazu findet. Wir haben an unserem Gymnasium einen Weg vor vielen Jahren gefunden - durch reinen Zufall.  In unseren 5 kleinen siebten Klassen und 5 kleinen achten Klassen saßen sehr viele Versetzungsgefährdete - im Durchschnitt mehr als 4 in jeder Klasse. 44 insgesamt, soweit ich mich erinnere. Das Problem: Da wir in allen Klassen nahe am Klassenteiler waren, durfte eigentlich am besten überhaupt niemand sitzenbleiben, weil wir sonst große Klassen hätten bilden müssen. Ich war zusammen mit einer Kollegin um diese Zeit wohl irgendwie in pädagogischer Experimentierlaune, wir sprachen über die Weight Watchers und hatten Lust, die Idee der Weight Watcher für Versetzungsgefährdete auszuprobieren. 

Alle einladen und dann einmal die Woche treffen und sich austauschen. Also Feedback, Feedback, Feedback, Teambildung und Selbstwirksamkeitserwartung … würde Hattie sagen. Wir nannten unser Projekt „Power Watchers“ - bekamen grünes Licht vom Chef (der natürlich niemals an einen echten Erfolg glaubte - wir ja auch nicht wirklich, aber wir hatten Lust auf Ausprobieren)

Ich mache es kurz: Wir starteten zwischen Ostern und Pfingsten und luden alle Wackelkandidaten schriftlich zu einer Doppeleinführungsstunde ein. Über 40 kamen … mit gesenktem Blick - in unser Zimmer … und gingen nach zwei Schulstunden erhobenen Hauptes wieder in ihre eigene Klasse. 

Der Grund: Wir haben uns das so erklärt: Sie wussten ja vorher nicht, auf wen sie treffen würden. Die Einladungen wurden in einem verschlossenen Umschlag übergeben. Wenn man versetzungsgefährdet ist, fühlt man sich ja nicht gut und trägt das nicht offen zur Schau. Nach unserer großen „Teambildung“ waren wohl alle sehr erstaunt, welche großartigen Mitschüler:innen auch zum Team gehörten. Ja das war wohl schon der erste vollautomatische Effekt. Denn die nächsten 10 Wochen, so lange hatten wir unser Power Watcher Projekt angesetzt, sahen wir unser Team in verschiedensten Gruppen und Grüppchen oft zusammenstehen … Freunde in Not. 🥳 Unser Angebot: Wer es schafft, jede Woche ein Wochenblatt auszufüllen, vor unserem Wochentreff (Große Pause an einem bestimmten Tag) im Sekretariat ausgefüllt einzuwerfen und am Ende noch immer versetzungsgefährdet ist, bei dem sprechen wir mit den Fach-Lehrer:innen der wesentlichen Fächer. 

Eine Doppelstunde, 10 große Pausen, einige Anpassungen unseres Wochenblatts … und wir waren zu zweit. Der Druck bei den Schüler:innen war wohl groß genug … wenn man den Eisberg sehen kann, auf den man zuschwimmt, dann greift man wohl lieber auch zu einem Strohhalm wie unserem Power Watching Projekt. Natürlich war unseren Schüler:innen nicht bewusst, welche Power tatsächlich von dieser Gruppe ausging. Auch wir hatten ja auch „nur so ne Idee.“ Mit Hatties Top Ten kann ich heute gut erklären, warum wir zu keinem einzigen Fachkollegen gehen mussten und alle Projektteilnehmer:innen versetzt wurden.

Unser Feedback waren die Wochenblätter und ein Kreuz an der Tafel zu Beginn unseres Wochentreff. Wir hatten dort immer einen horizontalen Strich hingemalt und unsere Teilnehmer:innen sollten ein Kreuz machen … über dem Strich, wenn es bei den eigenen Schulleistungen gefühlt aufwärts ging, unter dem Strich, wenn es sich seit dem letzten Treffen verschlechterte. Schon beim ersten Treffen nach unserer Einführungsstunde gab es nur Kreuze im positiven Bereich und das sollte auch so bleiben. 

Großartige pädagogische Ansätze? Fehlanzeige. Unser Part war Zuhören und Bestärken. Die Treffs organisieren und die Wochenblätter durchschauen und Rückmeldung geben. Alles andere machte unsere Selbsthilfegruppe alleine. Also Teambildung, Feedback, die eigenen Leistungen richtig einordnen lernen, Austausch, Stärkung des Selbstbewusstseins, Verbesserung der Eigenständigkeit, kollektive Wirksamkeitserwartung und und und ..  alles Dinge aus den oberen Hattie-Rängen. Wir gestalteten den passende Rahmen - und unsere Versetzungsgefährdeten packten ihre Fähigkeiten aus. Zogen ihren Joker aus dem Ärmel. 

In den Folgejahren haben wir diese „Einladung an die Versetzungsgefährdeten“ immer wieder gemacht. Meist auch frühere Gerettete und damit „Fachpersonal“ mit in die Doppelstunde genommen, um die Möglichkeiten des Joker-aus-dem-Ärmel-ziehen noch ernsthafter unterstreichen zu können. Dann gab es statt Wochenblatt ein Heft am Ende der Einführung, das jeder selbstständig benutzen konnte. Von Schulseite aus war der Druck, dass wir 10 kleine Klassen erhalten wollten, nicht mehr da. Wir hatten ja gewonnen. Wohl deshalb haben wir unsere wöchentlichen Treffen nicht mehr gemacht. Dadurch fiel natürlich der Teameffekt weg. Aus heutiger Sicht würde ich natürlich sagen: Diese 10 Pausentreffs lohnen sich riesig. Aber auch alleine schon das einmalige Zusammenbringen von allen Versetzungsgefährdeten in einer Doppelstunde, die Erfolgserzählungen von älteren Schüler:innen aus unserem Team (wir nannten sie Personal Coachs 😎) und der Besitz eines Lern-Organisationsheftes zeigte jahrelang Wirkung. Obwohl ich es am Ende nur noch alleine mit meinen Personal-Coachs durchgeführt habe. Die Weiter-Entwicklung des Heftes war der größte Zeitaufwand. Sonst war eben die Doppelstunde und die Ansage, dass jede:r Schüler:in mich gerne auch direkt ansprechen könne, wenn es Schwierigkeiten gäbe. Ich habe nach 5 Jahren interessehalber einmal die Durchfallquoten der letzten 10 Jahre verglichen und war selbst sehr erstaunt. Sie hatten sich tatsächlich halbiert … Klar, ich hätte locker daraus einen Mythos bauen können - aber der war ja bei mir nicht mehr notwendig, ging ich doch schon klar Richtung Zielgerade meines Berufslebens. Ich hatte ja auch schon lange Zeit mein vielfältiges kunterbuntes Effectarium gebaut. Doof fand ich irgendwie nur, dass sich diese schlanke Idee nie einfach so locker flockig verbreiten konnte. Ich habe zwar in meiner Fortbildungsheimat Schweiz/Baselland (der Prophet im eigenen Land funktioniert nicht so gut) in Muttenz einige Jahre Kurse gegeben - meist hießen sie „Vom Standstreifen auf die Überholspur“ und vereinzelt auch Erfolgsmeldungen aus der fernen Schweiz bekommen … aber damals hatte ich natürlich nur den Rahmen der Idee fortgebildet und nicht die Lambda-Ebene. Die Erfolgsmeldungen kamen deshalb im Rückblick immer von den Lambda-Natives meiner Teilnehmer:innen. Einen Schweizer „Großauftrag“ hatte ich noch, als ich schon einige Zeit in Pension war. 77 Nichtversetzte an 17 Schulen „retten“ helfen, für die es keine Klassen gab, in die sie hätten durchfallen können. Das war der „großen Harmonisierung“ der Schweizer Bildungslandschaft geschuldet. Eine Notsituation. Mein Fortbildungs-Konzept „Vom Standstreifen auf die Überholspur“ war der Bildungsbehörde bekannt … und so kam ich in den Genuss, zusammen mit 17 Begleitlehrer:innen etwas Spannendes auszuprobieren. Ich nannte es „Projekt Reservetank“. Coaching der besonderen Art über Online-„Ansprache“, ein Feedbackheft und viele Bilder. https://faust-digital.jimdofree.com/das-versetzungsprojekt/ Ich hatte damals eine eigene Webseite dafür eingerichtet. Wen diese Sache interessiert, alle Materialien sind frei verfügbar. 


Ich will diese Idee nicht zu sehr hier ausbreiten. Es ist nur ein Beispiel, wie man mit Hilfe von Lambda - ja klar, es spricht sich schnell auch außerhalb seines Effectariums herum - außerunterrichtlich einen Mythos erzeugen kann, der aus 95% Haltung und 5% zeitlichen Einsatz besteht. Hocheffektiv seinen Lambda-Faktor nutzen bedeutet: Reduce to the Max. De-Implementierung. Zeit erwirtschaften - durch Einsatz der eigenen metakognitiven Strategiefähigkeiten. Hattie ganz oben. Nebenbei tut man den Versetzungsgefährdeten richtig Gutes und spart auch viel Geld für die Gesellschaft. 

Bei uns blieben im Schnitt vor unserer metakognitiven Spezialkonzeption rund 20 Schüler:innen pro Jahr sitzen. Der übliche Schnitt an Gymnasien liegt zwischen 2 und 3%. Bei 1000 Schüler:innen lagen wir also sowieso am unteren Durchschnittswert. 20. Mit unserem Konzept konnten wir fast 10 Jahre die Quote halbieren. Eine Studie aus dem Jahre 2009 sprach damals von etwa einer Milliarde Zusatzkosten pro Jahr in Deutschland durch das Sitzenbleiben. Wobei die Leistungsverbesserung eben meistens ausbleibt. Bei uns blieben die Leistungsverbesserungen für die Hälfte genau nicht aus. 10 mal 10.000 Euro macht 100.000€. In 10 Jahren immerhin eine Million Einsparung. Nein, leider konnte ich diesen Einsatz nie steuerlich geltend machen. 🥳


Ich lasse es einmal so stehen. Mythos bringt es, Lambda ist dafür eine echte Hausnummer und die metakognitive Strategie eines Reservetank-Projekts kann Berge versetzen und einen vor missliebigen Arbeiten für die Schule schützen. Also einem selbst Zeit sparen, die man dann sinnvoll und entspannt für seinen Unterricht und seine Schüler:innen, aber in erster Linie für das eigene Lehrerwohlbefinden einsetzen kann.