
Was weglassen? – Faktoren mit geringen Effektstärken
Zuerst einmal eine zentrale Reflexion: Der größte Teil dessen, was wir im Unterricht machen, machen wir selbstbestimmt. Stimmt nicht?
Hand auf‘s Herz. Es gibt in Deutschland keine echte Vorschrift, wie ich meinen Unterricht zu gestalten habe. Es sollte nur der Output stimmen. Die fachliche Leistung der Schüler:innen am Ende des Schuljahres. Wie genau ich meinen Unterricht gestalte, da redet mir niemand hinein. Speziell nicht, wenn meine Schüler:innen damit zufrieden sind, die Zeugnisnoten im „normalen“ Bereich liegen und die mir nachfolgenden Kolleg:innen nicht den Eindruck haben, ich hätte „den Lehrplan nicht erfüllt.“ Ob ich mich dafür persönlich aufreibe oder entspannt mit meinen Schüler:innen an einem Effectarium baue, das bleibt mir selbst überlassen.
Das ist die große Chance. Das ist die große individuelle persönliche Chance für jede einzelne Lehrperson. Die eigene kleine Schule in der Schule zu bauen und sich darin mit seinen Schüler:innen wohl zu fühlen - das ist ein wunderbares Ziel, finde ich. Reduce to the Max.
Na klar, formal muss eine bestimmte Anzahl von Arbeiten geschrieben werden. Wie genau ich sie allerdings aufstelle und wie genau ich sie bewerte und wie aufwändig ich sie korrigiere … das liegt ganz im eigenen Ermessen. Auch wie man die Arbeiten bespricht, Fehler analysiert, Schüler:innen verstehen lernt, das liegt in der eigenen Hand. Auch wie man die Unterrichtsstunde am nächsten Tag vorbereitet, unterliegt dem eigenen Ermessenspielraum. Deshalb Hand auf‘s Herz: Die wirkliche Vorschriften sind die alten Gewohnheiten in jahrhundertealten Gemäuern.
In den jahrhundertealten Gemäuern hält sich unerschüttelich die Ansicht: Gute Lehrer arbeiten viel, bessere Lehrer noch mehr. Lehrende arbeiten für die Lernenden. Dabei sollte die eigentliche Arbeit das Lernen sein, nicht das Lehren.
Ich erinnere mich gut an die Aussage eines Wissenschaftlers, der mit mir die Auswertung meiner Physik-Doppelstunde im Rahmen einer Video-Pisa-Studie erläuterte. Unsere Schule wurde per Zufallsprinzip ausgesucht, es sollte eine 9. Klasse Physik zur Vergleichbarkeit in den Fokus genommen werden. Ziel der Untersuchung: Wie sind Unterrichtsstunden (Physik, 9. Klasse) methodisch, didaktisch aufgebaut. Anteil der Schülerbeiträge, Anteil der Lehrer-Inputs, Gruppenarbeit, Versuche etc. Ich fragte den Wissenschaftler damals, ob es denn schon irgendwelche Erkenntnisse aus den Untersuchungen gäbe. Es wäre noch zu früh, meinte er. Aber nachdem er sich Unterrichtseinheiten in vielen europäischen Ländern angesehen hätte, wäre ihm aufgefallen: „In Deutschland arbeiten mehr die Lehrer, in manchen anderen Ländern mehr die Schüler.“
Ich fand das damals eine interessante Aussage, auch wenn ich denke, dass es kein deutsches Phänomen ist, dass sich die Lehrenden verausgaben, damit die Lernenden
mehr arbeiten. Aber als Bild kann man es gut für den Bau eines eigenen Effectariums verwenden. Bei Lernprozessen geht es darum, dass die Lernenden lernen.
Klar, weiß jeder. Die wichtigsten Grundlagen von effektivem Lernen für Lernende heißen:
- Den Rahmen des Lehrplans zu kennen und die aktuellen Ziele, die es zu erreichen gilt.
- Zu wissen, wo ich selbst leistungsmäßig stehe und wo ich innerhalb meiner Klasse.
- Keine Angst vor Defiziten oder Fehlern zu haben, weil man dies alles lösen kann …
… wenn das Klassenklima stimmt und die Beziehungsebene zur Lehrperson (Stichwort Lambda)
Das alles kann nur durch regelmäßiges tägliches Feedback jeglicher Art funktionieren. Vom Eierkarton mit 10 Löchern, über Lerntagebücher, über Austausch in Gruppen, über Lehrergespräche, über
Klassendiskussionen etc. …
Und das alles bedeutet nicht das Verausgaben der Lehrenden, sondern es bedeutet gemeinsame Arbeit an Transparenz und Vertrauen. Das ist am Ende ein großes WinWin für beide Seiten und bedeutet schon ohne spezielles De-Implementieren vollautomatisches Reduce to the Max. Hattie lässt grüßen.
Ich will in diesem Skript keine konkreten Tipps für das „Was weglassen?“ geben.
Der Grund.
Nehmen wir einmal die Hausaufgaben. Ich habe früher persönlich in Physik praktisch nie und in Mathematik immer sehr kleine Hausaufgaben gegeben. Heute könnte ich zwar sagen: War erfolgreich, also mach das auch so. Weil Hausaufgaben in der Hattie-Studie sehr weit unten rangieren. Sehr kleine Effektstärke. Aber Hausaufgaben kann man ja so oder so verstehen. Innerhalb deines Effectariums kann es sehr sinnvoll sein, dass ihr beschließt, Übungsphasen aktiv nach Hause zu verlegen. Wenn Schüler:innen selbst das Lernen zu Hause als hilfreich empfinden und die Besprechung im Sinne eines guten Feedbacks … dann sind Hausaufgaben ja auch keine üblichen Hausaufgaben mehr.
Ich habe früher ja einfach auch nur aus dem Bauch heraus agiert. Als Vertrauenslehrer habe ich früh die Praxis der Hausaufgaben gesehen, weil ich immer nah dran „am Schüler außerhalb des Unterrichts“ war. Und da war es häufig so, dass die „guten“ Schüler:innen in einem Fach die Hausaufgaben aus dem Ärmel geschüttelt haben. Und die „schlechten“ Schüler:innen in einem Fach sich entweder gequält oder am Ende abgeschrieben haben.
Und klar, es nützt ja alles irgendwie. Auch die schön geschmückten Wände, die man als Klassenlehrer:in zeitaufwändig anlegt. Mag sein, dass es in der einen Klasse wirklich zum Klassenklima beiträgt, weil schon im Entstehungsprozess viel Lambda und Wirksamkeitserwartung drin steckt. Kann aber auch sein, dass es zwar sehr schön und bei Elternabenden gut vorzeigbar ist, aber für den Lernprozess wenig hilfreich.
Mein Ansatz lautet: Der Output muss stimmen, das Innere des Effectariums muss sich daran orientieren und du solltest diejenigen Faktoren reduzieren, die wenig effektiv sind. Hattie geht im erwähnten Interview speziell auf Noten ein. Er blickt in die Zukunft und beschreibt die Möglichkeiten, wie man Noten auch heutzutage schon von KI-Assistent:innen entwickeln lassen kann. Computer können heute schon klare Aussagen über Fehler und Mängel aber auch über Stärken und Fähigkeiten machen. Und Computerergebnisse werden von Schüler:innen mehr akzeptiert als Lehrerkorrekturen - sagen Studien. Außerdem gibt weltweit keine Studie, die belegt, dass Noten während der Schulzeit eine wesentliche Auswirkung auf den späteren beruflichen Erfolg haben, geschweige denn auf den Lebenserfolg. Also ist hier ein sehr starker Ansatz für die Zukunft. Denn Korrigieren schluckt einen sehr großen Teil der Lehrerarbeitszeit.
Deine Zukunft zusammen mit einem Korrekturroboter liegt wahrschinlich für dich noch in einiger Ferne, aber schon die Grundhaltung Noten gegenüber kann dir viel Druck und Zeit wegnehmen. Ich hatte
das schon einmal auf einer früheren Seite erwähnt: Im Effectarium muss allen klar sein, dass Noten nur ein Wegweiser sein können und deshalb auch als Wegweiser behandelt werden müssen. Die Eltern
muss man allerdings geduldig überzeugen, denn Eltern kommen aus einer Old-School-Zeit und die Noten ihrer Kinder sind leider für sie scheinbar elementar. Aber man kann es vermitteln, wenn sich am
Ende immer ergibt, dass der Output aus deinem Effectarium stimmt. Also die Fähigkeiten, die eine Schülerin oder ein Schüler im Laufe eines Schuljahres entwickelt hat, und zwar wegen der
Wegweiserrolle der Noten. Hier muss man Eltern mit ins Boot holen, um sich im Effectarium entspannen zu können.
Übrigens: Um mündliche Noten habe ich mich immer mit schlechtem Gewissen herumgedrückt. Mein Problem: Ich wollte nie einen Schüler an die Tafel vorholen, um ihn zu prüfen. Um dann eine mündliche Note eintragen zu können. Ich wollte auch meinen Unterricht nicht dadurch unterbrechen, weil ich gute mündliche Beiträge in mein Notenbuch hätte eintragen müssen. Außerdem hatte ich oft in Physik aber auch in Mathematik stille und schüchterne Schüler:innen, von denen ich wusste, dass sie es blicken, aber den Mund machten sie selten auf. Nun wollte ich natürlich nie stille Schüler:innen mit einer schlechten mündlichen Note belegen, nur weil ich mündlich nie an abfragte. Also blieb mit nur: Schriftliche Note plus Bauchgefühl = mündliche Note. Und wenn es dann am Ende gar nicht passte, dann habe ich ganz vereinzelt auch mal abfragend nachgehakt. Aber wirklich selten. Na ja. 10 Jahre nach meiner Pensionierung kann ich ja dazu stehen. 🥳 Ich denke, das hat keine einzige Lebenskarriere verbaut.
Mein Tipp am Ende dieses Kapitels: Schreibe dir wirklich einmal auf, wie viel Zeit du für welche Tätigkeiten verwendest. Und bevor du am Ende mit dem Rotstift ans De-Implementieren gehst, lege für manche Bereiche, die viel Zeit beanspruchen, die Messlatte einfach etwas tiefer. Gekoppelt mit einem bewusst durch Feedback und Transparenz wachsenden Lambda-Faktor wirst du merken, dass der Output stabil bleibt oder sogar wächst, obwohl du weniger „arbeitest“. Mach dir klar: De-Implementieren ist echte Arbeit, die dir und deinen Schüler:innen zugute kommt. Du wirst im Laufe der Zeit sowieso merken, dass sich freie Zeitkontingente wunderbar auffüllen werden. Allerdings dann mit Dingen, die du nicht mit stressiger Tätigkeit verbindest, sondern mit befriedigender pädagogischer Arbeit.