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6. OLE oder die Vertiefung des 5. Kapitels
Ich halte die Aussagen des letzten Kapitels für die zentralen, um an seinem eigenen Effectarium zu bauen, in dem man mit seinen Schüler:innen schwimmen kann wie die Fische im Wasser.
Nennen wir es doch hier mal „Mit Otto-Luuise das Effectarium bauen“. Kurz OLE. 😎
Nein keine Sorge. Ich verwende es nur für dieses eine Kapitel.
Wer es bis jetzt noch nicht mitbekommen hat, ich verwende für pädagogische Ideen gerne meinen Künstlernamen Otto Kraz. Übrigens aus Erfahrung eine gute Idee, um verrückte Ideen besser den Otto machen zu lassen. Mit meinem Otto Kraz kann ich viel entspannter spinnen. Der Otto Kraz ist übrigens jetzt schon 13 Jahre alt geworden. Ein Teeny also. Er entstand für unsere Laborschule in Weit im Winkl - als wir uns mit einer Gruppe von Digitalpionier:innen eine eigene Schule im Netz schufen, um dort mit eigenen Online-Lektionen zu experimentieren. Ich war damals der Physiklehrer Otto Kraz und hatte meine Physikräume unter einer eigenen Adresse aufgebaut. Den Otto habe ich nach meiner Pensionierung einfach mitgenommen.
OLE meint folgendes Konzept: Man vertiefe sich in die effektivsten Hattie-Faktoren und stellt dabei fest, dass sich an der Spitze alle Faktoren Richtung Lambda-Ebene bewegen. Weil die Spitze der effektivsten Faktoren Selbstreflexion durch Feedback aller Art ist und gemeinsame Reflexion mit seinen Schüler:innen die Lambda-Ebene wachsen lässt. Schüler:innen müssen dabei selbst über OLE Bescheid wissen, denn OLE ist immerhin eine metakognitive Strategie mit sehr hoher Effektstärke, deren Bedeutung man kennen muss, damit sie wirksam wird.
Das Entwicklungsorientierte an OLE ist der Prozess … man legt mit seinen Schüler:innen das gemeinsame Ziel fest … also mal grob: Das Rollenverhalten: Dienstleister:in und aktive Kunden und nicht Dompteur:in und passive Konsument:innen. Durch ein Luuise-Messinstrument erfassen Dienstleister und aktive Kunden am Ende jeder Unterrichtsstunde den Lernprozess. Die Fragestellung zur täglichen Messung wird meist durch den Dienstleister entwickelt, aber auch die aktiven Kunden dürfen Fragen einbringen, die gemessen werden sollen. Ein Effectarium ist wie ein Aquarium: Transparent und nicht wie ein Schwarzes Loch, aus dem zum Schuljahresende Noten herauspurzeln. Das ist formative Evaluation agil angewandt - also einfach auch experimentierend, optimierend, verändernd, immer wieder neu anpassend, klassendiskutierend - und sie bewirkt allein durch das Tun eine schrittweise Verstärkung der Lambda-Ebene und gleichzeitig mehr Zeit für dich als Lehrer:in, weil du dich damit - als Visualisierung gesehen - vom Dompteur zum Dienstleister wandeln kannst, während deine Schüler:innen immer mehr zu aktive Kunden werden. Also auch natürlich von der Dompteurin zur Dienstleisterin. Klar oder? 😎
So kann man mit einem Eierkarton samt 10 Löchern und der Erkenntnis, dass Unterricht für alle Beteiligten entwicklungsorientiert transparent sein muss, sich selbst sehr viel Gutes tun. Und sich entwicklungsorientiert sein Effectarium zeitsparend einrichten. Wir verwenden an der Hochschule für agile Bildung inzwischen den Begriff „Entwicklungsorientierte Bildung“ häufiger als agile Bildung. Einer der Gründe, wie ich es sehe: Der Begriff agil kommt aus der Ecke der Industrie und hat sich deshalb so schnell über den Planeten verbreitet, weil agile Prozesse effektiver und gewinnbringender sind. Wer aber im Bildungsbereich nur auf die Effektivität des Outputs Fachnoten blickt, der blendet ja den viel wesentlicheren Bereich der Persönlichkeitsentwicklung, der Selbstständigkeit, des Reflexionsvermögens, der Resilienz, der Kritikfähigkeit etc komplett aus. Und damit den Garanten für ein erfolgreiches Leben samt Zufriedenheit und Erfolg im Beruf. Wobei Erfolg im Beruf nicht mit Karriere zu verwechseln ist. Der Fachnoten-Fokus zielt am Gymi auf ein Eins-Komma-Abitur und Karriere. Das scheint wie in Stein gemeisselt … aber mit OLE kann man sich innerhalb dieses alten Gemäuers am besten zusammen mit ein paar Mitstreiter:innen sein „Aquarium“ aufbauen. Eine Schule in der Schule.
Im Effectarium mit der aktiven Kundenidee darf ein Kunde das eigene Fach übrigens auch richtig doof finden. Darf schlechte Noten schreiben. Sollte nur wissen, dass er einen riesigen Joker im Ärmel mit sich herumträgt, den er auch später nach der Schule ziehen könnte, falls er das wollte.
Dein eigener Fokus bei dem Bau des Effectariums muss Folgender sein: Stärkung der Lambda-Ebene durch Zusammenarbeit mit deinen Kunden, viel mehr Verantwortung an die Kunden abtreten, Fehler machen dürfen etc … und am Ende sollte mehr Zeit und mehr Gelassenheit stehen. Und das alles, ohne dass man mehr macht als einen alten Eierkarton mit 10 Löchern an den Ausgang des Klassenzimmers zu stellen.
Ich erzähle mal wieder eine kleine Geschichte - zum Thema Joker im Ärmel:
Die Geschichte von Celi.
Ich nehme dazu den Messenger-Text-Austausch eines alten Schulmeisters mit seiner früheren Schülerin vor zwei Jahren.
„Liebe Celi. Ich habe in den letzten Tagen viel von dir erzählt … und zwar von der Geschichte, die ich seit damals so oft erzählt habe, dass ich gar nicht mehr weiß, ob sie überhaupt genau so stimmt. Ich habe sie an einen agilen Bildungscoach von unserer kleinen Hochschule für agile Bildung in Zürich geschickt und er fand die Geschichte sehr bewegend und stark. Ich habe ihm versprochen, dass ich dich mal fragen würde, ob du für uns Schweizer die Story als kleine Rückblickgeschichte schreiben könntest. Falls sie überhaupt so stimmt. 😎😎😎 Weil man mit dieser Geschichte das agiles Mindset sehr gut erklären kann….
Hier meine Story über dich:
„…. Celi war eine tolle Schülerin (Ich war in der 5. Klasse Klassenlehrer - 9. Klasse saß sie bei mir im Physikunterricht), die Physik aber sowas von doof fand und uninteressant und nervig und unnötig und alles. Verstanden haben wir uns natürlich trotzdem super. Die Welt wäre ja gruslig, wenn nur Menschen drin rumlaufen, die Physik supertoll fänden. Trotzdem: Celine hat ohne groß was zu tun immer locker ne Drei geschrieben. Oder auch zwei. Keine Ahnung mehr. Befriedigend in Deutschland. Ich habe meinen Schüler:innen immer wieder eingetrichtert, dass es mir vollkommen egal wäre, wie toll sie mein Fach finden, aber sie sollten es bitte nicht gleich ablehnen und eben drauf einlassen, weil es ja sein könnte, dass sie es später im Beruf plötzlich doch brauchen. Ich weiß noch wie Celi mich da immer offen und herzlich ausgelacht hat. Sie wollte Jura studieren. Das war für sie ausgemacht. So hatte ich es in Erinnerung. Ihr Vater Notar im Städtle. Na ja. Celi hat in der Oberstufe Sprachen gewählt, Abi gemacht und ist nach Frankfurt an der Oder gezogen und hat Jura studiert. Zwei Jahre später traf ich sie zufällig. „Und Celi? Jura? Alles gut?“ und da strahlt mich diese lebensfrohe junge Frau an und erzählt mir ihre Geschichte: „Weißt du, dieses Jurastudium. Sowas von WischiWaschi. Keine klaren Strukturen. Irgendwie war das nicht das, was ich gedacht hatte. Und neben der juristischen Fakultät war das physikalische Institut und da gab es eine Anfängervorlesung in Physik und da habe ich mich zur Entspannung reingesetzt. Und stell dir das mal vor: Dann hab ich mich in die Physik verliebt. ❤️❤️❤️„ Da geht mir noch 20 Jahre danach das Herz auf. Celi hatte da schon umgesattelt. Elektrotechnik und Betriebswirtschaft. Wirtschaftsingenieurin. Celi und auch gleich ein Stipendium für zwei Auslandssemester in den USA bekommen. 😎😎😎…“
Also meine Liebe, soweit meine Erinnerung. Und jetzt bin ich sehr gespannt, ob sie stimmt oder ich sie mir nur so geschickt zurechtgerückt habe, dass ich sie gut in Fortbildungen verwenden konnte. 💪💪 Und dann natürlich nochmals die große Bitte aus Zürich: Würdest du uns einen kleinen Erinnerungstext schreiben, den wir für unser Anliegen, die Welt der Bildung heftig „guter“ zu machen, verwenden dürften. Darüber würde ich mich riesig freuen.
Nochmal ganz liebe Grüße aus Freiburg
Old Heinz
Celi schrieb zurück
Guten Morgen Heinz! Wie schön von dir zu hören:) ich bin heute und morgen leider den ganzen Tag in London unterwegs. Aber ich schreibe dir gerne eine ausführlichere Antwort Sonntagabend oder Montagmorgen! Die Geschichte die sie erzählen ist so grundsätzlich richtig aber sie ist nicht zu Ende erzählt worden. Trotzdem bin ich wohl ein gutes Beispiel für ein agiles mindset 👀😅🙏 !!
Und später kam dann die Geschichte:
„Die Celi ging immer gerne zu Schule, doch sie hatte Fächer die fielen ihr leichter und Fächer die fielen ihr schwerer. Physik und Mathe waren solche Fächer, die fielen ihr schwerer. Weshalb? Wahrscheinlich hatte es etwas damit zu tun, dass die Celi als “Mädchen” in der Gesellschaft sozialisiert worden ist und Mädchen suggeriert wird dass ihr Gehirn halt einfach nicht so fürs “Rationale Denken” geschaffen ist, sondern halt mehr so fürs “Emotionale” und fürs Quatschen…
Jedenfalls, war der Celi nie so klar, was genau sie mal nach der Schule “werden soll”. Sie hatte sehr vielfältige Interessen und konnte sich irgendwie nicht so festlegen - auch generell die Idee von “was soll ich werden?” klang sehr abstrakt und hatte wenig mit ihrer Lebensrealität zu tun.
Nach einem guten Abi, entschloss sie sich, nachdem sie eine Saison als Animateurin in Italien gearbeitet hat, doch kein Jahr Pause zu machen, sondern direkt an die Uni zu gehen. Da dies ein sehr kurzfristiges Unterfangen war (es war schon Anfang September als die Entscheidung fiel, also kurz vor Semesterbeginn) hatte sie nicht mehr so viel Auswahl in Studienort und Studienfach und dachte, “naja Jura kann ja nicht verkehrt sein” und zog vom äußersten Südwesten des deutschen Landes in den äußersten Nordosten, nach Frankfurt an der Oder.
Dort erlebte sie mit ihren doch noch sehr zarten 18 Jahren erstmal einen ordentlichen Kulturschock. Bisher kannte sie die DDR hauptsächlich aus Geschichten der Generation ihrer Eltern und halt ihren Geschichtsbüchern, nun aber lebte sie mittendrin. Schon nach sehr kurzer Zeit merkte sie, dass das Jurastudium oder zumindest Frankfurt (Oder) nichts für sie ist und flüchtete zurück in die wohlvertraute Heimat und die sanften Hügel des Schwarzwaldes.
Nun arbeitete sie zwei Jobs gleichzeitig (im Café tagsüber und Restaurant abends) um Geld zu verdienen für einen geplanten Roadtrip durch die USA mit zwei Freundinnen.
Ihre Eltern aber machten sich Sorgen um die Zukunft ihres Sprösslings und bestanden darauf, dass sie sich doch entscheiden mochte was sie denn nach ihrem Roadtrip so “werden sollte”.
Also dachte sich die Celi, naja dann “machsch halt was gscheits” und bewarb sich für ein duales Studium “Wirtschaftsingenieurwesen/Elektrotechnik” bei einer lokalen Firma. Sie hatte Glück, denn es war zufällig jemand abgesprungen und es war gerade noch ein Platz in der Kohorte frei. Nach einem erfolgreichen Interview wurde ihr der Ausbildungsvertrag zugeschickt, gerade bevor sie in die USA flog, also perfektes Timing und super Plan, so auf dem Papier. Aber schon beim Unterschreiben des Vertrages, hatte die Celi ein ungutes Bauchgefühl. Sie unterschrieb natürlich trotzdem und ab gings nach Amerika. Später dann im Herbst als das Studium losging, merkte Celi schnell, dass ist auch nichts für sie. So jeden Tag ins Büro gehen und für Profite einer Firma ihre Lebenszeit hergeben, war nicht genug um sie zu motivieren. So entschied sie sich nach einem Semester erneut das Studienfach zu wechseln und diesmal wirklich genau das zu machen, was sie interessierte: Geschichte und Politik. Gesagt getan, sie schrieb sich in Heidelberg für Geschichte und Politik doppeltes Hauptfach ein und sie hatte endlich das Gefühl am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. Sogar das Latinum schaffte sie mit links. Sie merkte schnell, dass der arabische Raum sie interessierte und legte ihren Fokus auf den Mittleren und Nahen Osten. Nach ihrem Abschluss ging sie nach Jordanien und arbeitete eine Weile für die Vereinten Nationen und bewarb sich für einen Master in Modern Middle Eastern Studies an der Universität Oxford. Sie bekam einen Studienplatz und hatte nach 2 Jahren Studium und Forschung ihren Abschluss von der besten Universität der Welt. Alles weil sie ihrem Bauchgefühl gefolgt war. Danach überlegte sie wo die Reise hinging, wusste es nicht so genau hat aber gelernt, dass es sehr ratsam ist seinen Instinkten zu folgen, anstatt einem Lebensentwurf den andere für einen vorsehen. Denn wirklich: Celi hatte schon in der 5ten Klasse von ihrem Klassenlehrer gelernt: „Schau mit offenen Augen in dein Leben und mach dein eigenes Ding!“
Die Kraft von Visualisierungen - (hilft beim Lambda-stärken. Und damit beim Baum des Effectariums.)
Bei dem Text von Celi fällt mir ein, dass ich 2003 in dieser 5. Klasse meinen ersten Motivationskalender für meine Schüler:innen erstellt habe. „Und immer vorne auf der Welle“ war meine zentrale Visualisierung. Später habe ich noch viele Kalender folgen lassen.
Visualisiert habe ich eigentlich schon immer. Wer meine Webseiten abschaut, kennt meine kleine Leidenschaft. Unser damaliges Grundbildungskonzept war umrahmt von Bildern, die darstellen sollten, um was es beim Lernen geht. Aufgehängt wie Wahlplakate. Sichtbar und schnell zu begreifen. Wenn man die Story hinter einer Visualisierung mit seinen Schüler:innen besprochen hat, dann löst das Sehen der Visualisierung ohne Erklärung die ganze Story aus. Sie setzt sich dann im Kopf fest, wenn sie positiv belegt ist. „Immer vorne auf der Welle“ - ich denke, dass diese Visualisierung vielen meiner Schüler:innen einen starken positiven Motivationsschub in diversen Lebens- und Lernphasen gegeben hat. Zumindest haben da viele behauptet. Ich habe Kalender gemacht, oft auch für Eltern begleitend, aber später auch Lerntagebücher - immer mit Visualisierungen: Selbstständiges Lernen funktioniert leider nicht so, dass man seinen Schüler:innen sagt: „Nun lernt mal selbstständig.“ Ich habe immer intuitiv gezeichnet - heute kennt man natürlich viele Studien, die belegen, dass die Visualisierung eines komplexen Prozesses eine sehr positive Unterstützung des Prozesses darstellen kann. Wenn sie positiv aufgenommen wird. Also z.B. von einer Lehrkraft, mit der die Lambda-Ebene passt.
Visualisieren ist übrigens keine „Kunst“, eher ein „Kunsthandwerk“ bzw ein Handwerk. Nach meiner Pensionierung habe ich des öfteren Tagungen visualisiert. Pädagogische aber auch Tagungen unsers Forums agile Verwaltung. Da machen Visualisierungen auch großen Sinn, weil sie Teilnehmer:innen sehr schnell einen ganzen Tag widerspiegeln. Wer sich einmal meine Zeichnungen anschaut, wird merken, dass ich alles andere als ein Illustrator bin. Eher ein Handwerker mit einer Kiste von einfachen Formen und bunten Farben. Mit meinen Strichmännchen bin ich noch immer nicht zufrieden, aber es tut dem Sinn von Visualisierungen keinen Abbruch. Einen wunderbaren Platz für Lernmotivations-Visualisierungen ist die Wand neben der Klassenzimmertüre. Da muss jeder durch und die Visualisierung wirkt, auch wenn sie nur aus dem Augenwinkel gesehen wird.
Fazit: Trau dich, selbst zu visualisieren. Du darfst gerne alle Visualisierungen von mir im Netz verwenden und weiterverarbeiten. cc by ottokraz steht bei ganz vielen. Aber auch wenn nicht: Meine Krazeleien unterliegen keinem Copyright. Deshalb: Ausprobieren. Eine weitere Möglichkeit, die Lambda-Ebene zu stärken und damit am Effectarium zu bauen. Zusammen mit deinen Schüler:innen.