Effectarium 5 - oder - Formative Evaluation

5. Formative Evaluation oder wie ich zum Luuisianer wurde

 

Als mich 2014 Freunde aus meiner Schweizer Fortbildungsumgebung (Ich hatte davor schon etwa 10 Jahre lang unsere außerunterrichtlichen Konzepte mit aktiven Schüler:innen in Baselland fortgebildet … noch als aktiver Lehrer) auf der Didakta in Basel in einen Vortrag geschubst hatten, den ich unbedingt sehen müsste, war ich zuerst sehr enttäuscht. LUUISE. Ich dachte an Großes und fand für mich etwas scheinbar Banales vor. Formative Evaluation. Zusammen mit den eigenen Schüler:innen neben dem laufenden Unterricht pädagogische Knacknüsse knacken … ein spezielles Feedback-Verfahren, das von Prof. Dr. Wolfgang Beywl mit seinem Team an der FHNW Brugg-Windisch auf der Basis dieses sehr effektiven Faktors in der Hattie Studie entwickelt wurde. Formative Evaluation. Ich hatte mich damals noch nicht wirklich mit Hattie beschäftigt. Und fand die Art, wie im LUUISE-Verfahren Feedback eingeholt wurde, eher passend für Grundschulen. Zu einfach. Nicht für mich als „Gymnasialen“. Sorry. Hatte damals wohl die Nase zu hoch getragen. LUUISE: Lehrpersonen untersuchen und unterrichten integriert spezifisch und effektiv. 

 

Ich ging nach der Didakta noch auf einige Vorträge von Lehrer:innen, die über Luuise berichteten. Für mich fiel der Groschen erst, als fast alle von einem „Nebeneffekt“ berichteten: „Das Verhältnis zu meinen Schüler:innen wurde erstaunlicherweise viel besser.“

Das war es für mich. „Nicht erstaunlicherweise“, dachte ich damals. „Genau das ist der Knackpunkt“. 

Formativ zusammen mit seinen Schüler:innen zu evaluieren verbessert die Lambda-Ebene und macht das Lernen effektiver. That‘s it. Die Verbesserung der Lambda-Ebene ist das Zentrale, das Knacken der Knacknuss der „Nebeneffekt.“ (Lambda-Ebene sage ich zur meist verwendeten Beziehungsebene, weil man die Lambda-Ebene als Neubegriff neu belegen kann … siehe weiter hinten. Beziehungsebene ist schon belegt)

Ja, nachdem der Groschen gefallen war, habe ich an der FHNW die Ausbildung zum LUUISE-Coach gemacht. Es war mein letztes Schuljahr und ich bin danach mit LUUISE im Rucksack immer wieder mal fortbildend unterwegs gewesen. Ich wollte nicht so abrupt mit etwas aufhören, was mir zuvor fast 40 Jahre sehr gut getan hatte. Die Beschäftigung mit der Zukunft der Bildung. Sowas tut meinem Pensionärskopf noch heute gut. Auch übrigens das Schreiben dieses Büchleins zum Effectarium. 

 

Ich denke natürlich schon lange nicht mehr, dass LUUISE nur etwas für Grundschulen ist. Ich finde sogar, dass man als Gymnasiallehrer:in noch viel mehr LUUISE-Ideen entwickeln kann. Leider hatte ich selbst an der Schule nur noch ein halbes Jahr Zeit, mit formativer Evaluation zu arbeiten. Später konnte ich dann aber diese Grund-Ideen dahinter fortbilden. Meine eigene Luuise Abschlussarbeit hieß übrigens: Scotty beam me up to Weit im Winkl.

Wir - meine Leistungskursschüler:innen und ich - hatten mit Hilfe des LUUISE-Verfahrens versucht, herauszufinden, ob man mit einer gezielten meditativen 5 Minuten-Absenkung vor der Doppelstunde Physik-Leistungskurs am Nachmittag die Motivation nachhaltig steigern kann. Ergebnis: Für 70% meiner Abiturient:innen meinten am Ende: Ja, man kann. 

Aber spannend und selbstreflektierend war es auch für die restlichen 30%. Und Lambda-Ebene-stärkend sowieso. Ich verweise an dieser Stelle einmal auf eines meiner Fortbildungsfilmchen zum Thema Lambda-Faktor. 

 

Begleitendes Feedback zur Stärkung der Beziehungsebene zwischen Lernenden und Lehrenden, das ist für den Bau seines eigenen Effectariums hier im Buch mein zentraler Ansatz. In meiner Arbeit als Vertrauenslehrer habe ich jahrelang feststellen müssen, dass viele tolle Kolleg:innen von ihren Schüler:innen alles andere als toll empfunden wurden. Ich fand es damals sehr seltsam, dass es offensichtlich so schwierig war, die Lambda-Ebene professionell zu bedienen. Also diese eigentlich für mich und meine engen Mitstreiter:innen so „normale“ Aussagen wie:

1. Ernst nehmend - gegenseitig
2. Selbstreflektierend - auf beiden Seiten
3. Akzeptierend - gegenseitig
4. Fehler zulassend - gegenseitig
5. Zielorientiert - mit derselben Zielrichtung
6. Vorwurfslos - beidseitig

Wir haben daraus so eine Idee der einseitigen Lambda-Schwelle entwickelt. Wie bei den beiden Siebtklässlerinnen, von denen ich im letzten Kapitel erzählt habe. Die Lehrerin denkt, sie hätte eine gute Beziehung zu ihren Schüler:innen, von der viele Schüler:innen aber gar nichts merken. 

 

Mein Effectariums-Ansatz für dich: Wenn man es über das gegenseitige ernsthafte Reflektieren der eigenen Lernprozesse schafft, die Lambda-Ebene zu stabilisieren, dann deckt man schon ungeheuer viele Hattie-Top-Faktoren ab.

Je lambda, desto effektiver wird das Lernen. Desto selbstständiger die Schüler:innen und desto mehr Zeit bekommt die Lehrperson. 

 

Also: Je lambda, desto effectarium.

 

Als LUUISE Coach habe ich gelernt, mit den verschiedensten „Messgeräten“ anonymisierte Antworten von Schüler:innen parallel zum Unterricht zu erhalten. Mein „Messgerät“ für „Scotty beam me up to Weit im Winkl“ habe ich auch in Fortbildungen später noch zum Favoriten erkoren. Das Material stand damals zufällig in meinem Schuppen. Eine Doppelstegplatte vom Baumarkt. Bauanleitung siehe am Ende des Kapitels.

 

Parallel zur LUUISE-Ausbildung kam ich mit agilen Arbeitsweisen in Kontakt. Das agile Manifest stellte 2001 den Startzeitpunkt für agiles Mindset in der IT-Branche dar … und verbreitete sich dort rasant. Durch Willy Wijnands wurde eine agile Unterrichtsmethode erfunden, die extrem erfolgreich ist, aber einen starken und hohen Lehrereinsatz benötigt. Zumindest bis die Schüler:innen ihre eigene Möglichkeiten dadurch verinnerlicht haben. eduScrum. Starke Grundidee, weil sie konsequent auf die Eigenverantwortung der Lernenden setzt. Aber auch LUUISE fordert einen gewissen Zusatz-Aufwand für Lehrpersonen. eduScrum wie auch LUUISE sind wunderbare Ansätze, bedürfen aber so viel Eigeneinsatz, das sich meine frühere blauäugige Vorstellung, dass sich diese Konzepte einfach problemlos selbstständig verbreiten könnten, weil sie den Lehrpersonen selbst so gut tun, nicht bewahrheitet hat.

 

Inzwischen würde ich sagen: Nicht bewahrheiten konnte, weil meistens tatsächlich denjenigen Lehrpersonen, die echte Lust auf effektiveres Arbeiten haben, die Zeit und Muse dazu fehlt, sich in neue Konzepte zu vertiefen und sie deshalb ihren Plan immer wieder verschieben. 

 

Daher ja auch hier mein aktueller Tipp: De-Implementieren bevor man in die Zukunft der Bildung reist. Und jetzt auch schon ganz konkret: De-Implementieren, indem man durch formative Evaluation die Lambda-Ebene stabilisiert. 

 

LUUISE - das ist ein komplettes Verfahren, das man nicht mal so einfach ohne Begleitung durchführen kann. Aber man kann sehr wohl ohne Fortbildung mit einem anonymisierenden LUUISE- Messwerkzeug zum Beispiel den aktuellen Lambda-Faktor messen. Oder den Stunden-Durchblick seiner Schüler:innen. Oder den Motivationsstand. Oder die eigene Klarheit als Lehrperson. Das Vertrauen. Das Interesse am Fach. Die Zustimmung zu einem neuen Konzept. Auch das „Wie war heute mein Unterricht für dich?“ usw usw

Nicht jeder hat so eine Doppelstegplatte im Schuppen stehen wie ich damals. Aber man kann sich für das Einwerfen ja viele Möglichkeiten einfallen lassen. Ich habe gerade mal wieder gesucht. Mir fiel spontan eine Eierschachtel ins Auge. Die 10 Eier herausnehmen und daraus ein schnelles Instrument bauen. 10 Löcher schneiden, Murmeln oder Steinchen zum Einwerfen. Eine Skala von 1 bis 10. Fertig. („Bau-Anleitung am Ende)

 

Das eigentliche Problem bei dieser Art von formativer Evaluation heißt normalerweise: Traue ich mich, die Lambda-Ebene zwischen mir und meinen Schüler:innen messen zu lassen. Ich hatte da nach 35 Dienstjahren natürlich gar kein Problem mehr, weil ich sowieso schon früh mein ganz eigenes LUUISE-Instrument erfunden hatte. Gleich mehr dazu. Wer solche Abstimmungen am Ende einer Schulstunde anfängt, sollte sich an diese Methode erst einmal langsam mit fachlichen Fragen herantasten. „Wie gut hast du heute den Satz des Pythagoras verstanden? Von 1 (überhaupt nicht) bis 10 (sehr gut). Die Frage zu Beginn an die Tafel. Einwurf nach dem Gong beim Rausgehen. Deckel auf und ein Handyfoto gemacht. Damit man bei Bedarf später im Klassengespräch drüber diskutieren kann. Und Entwicklungen sieht, wenn man eine Frage über einige Schulstunden stellt. Kleiner Zeitaufwand, stört nicht den Unterrichtsablauf. Bringt aber deine Schüler:innen in eine vollkommen neue Rolle: Sie können den Unterrichtsinhalt bewerten. Später auch die Vermittlung des Inhalts. Am Ende auch Dinge wie Lambda-Ebene, Verstanden fühlen, Wohl fühlen etc. Am Schluss vielleicht zusammengefasst in „Wie fühlte sich heute für mich unser Klassen-Effectarium an?“ Das könnte man dann einfach als Standard am Stundenende stehen lassen und wenn man spezielle Fragen hat, dann kann man dies an der Tafel aktuell formulieren.

 

Bei allem bitte nicht das eigentliche Ziel aus den Augen verlieren: Reduce to the Max. 

Reflexion, Feedback, formative Evaluation, kollektive Wirksamkeitserwartung, Lambda-Ebene sind extrem starke Hattie-Faktoren. Die Konzentration auf sie durch ein Luuise-"Messgerät" schafft automatisch bessere Lernergebnisse … deshalb kann man sich Stück für Stück leichter von alten Gewohnheiten lösen. Je mehr Zeit man selbst besitzt, desto mehr kann man in Hatties Top Twenty investieren. Eine stabile und formativ evaluierte Lambda-Ebene bringt Sicherheit. Fehler machen dürfen wird zur Selbstverständlichkeit. Deine Schüler:innen werden deine Effectariumsidee lieben und damit auch die Eltern. Wenn die Fixierung auf die Noten auf die Seite geschoben werden kann, dann entspannen sich viele Dinge im Unterricht.

 

Zum Schluss dieses Kapitels noch mein früherer Feedbacktrick im Unterricht.

Meine ganz spezielle formative Evaluation. Als ich mein Lehrerleben begann, war es für mich logisch, dass ich mir von meinen Schüler:innen  - zum Halbjahr und zum Schuljahresende - ein offenes Feedback geben ließ. Sie sollten einfach immer aufschreiben, was sie in meinem Unterricht gut und was sie schlecht fanden. Für mich ein wichtiger Wegweiser … aber eben nur zweimal im Jahr. Als ich dann vom Bauch her immer besser ein Gefühl bekam, wer da vor mir saß - entwickelte ich ein spezielles Beobachtungssystem. Ich nahm 4 oder 5 verschiedene Fachleute der Zukunft in den täglichen Fokus. Zum Beispiel: Eine Staatsanwältin, einen Ingenieur, eine Deutsch&Englisch-Lehrerin und einen Bauunternehmer. Das varriierte von Klasse zu Klasse. Es ging ja nicht darum, dass es die exakten späteren Berufe meiner Schüler:innen waren. Es ging immer um die verschiedenen Interessen. Wenn man sich als Physiklehrer vorstellt, wie die Umsetzung des schiefen Wurfs im Unterricht auf eine Juristin, einen Naturwissenschaftler, eine Philologin und einen Unternehmer wirken, dann deckt man eine gewisse Kundenbreite ab, aus der man vieles ablesen kann. Wenn man während des Unterrichts diese 4 Feedbackpersonen immer wieder beobachtet, dann erfährt man nonverbal extrem viel und kann seinen Unterricht anpassen. Versuche es einmal, eine spannende formative Evaluationsreise der besonderen Art. Oft habe ich natürlich meine Schüler:innen auch gefragt, mit wem ich es in 10 Jahren zu tun habe. Ab der 9.Klasse sind grobe Berufsrichtungen schon klar erkennbar. Da es von Lehrerseite aus einen mentalen Unterschied macht, ob ich eine Schüler:in oder eine spätere Staatsanwältin vom schiefen Wurf überzeugen will, ist schon dies eine Ernstnehmen meines Gegenübers, das spürbar wird, ohne dass etwas gesagt wird. Kostet keine Zeit, ist nur ein mentaler Trick. Verbessert die Lambda-Ebene und damit die Lerneffektivität der Schüler:innen. Ich finde, ein einfacher Kniff, wie man Effektivität steigern kann - um woanders Zeit zu gewinnen, weil man dieses andere zurückfährt.

 

Hier die Bauanleitungen für zwei Kraz‘sche-Luuise-„Messgeräte“.

Grundidee: Irgendetwas, in das man Kugeln, Holzdübel, Steine etc. einwerfen kann, um danach mit einem Klick das Ergebnis mit dem Smartphone fotografieren zu können. 

Der Möglichkeiten gibt es viele. 


Ich stelle zwei vor:

Erste Variante: Doppelstegplatten aus dem Baumarkt - mit einer kleinen Säge zugeschnitten. Mein früherer Favorit, weil man sie aneinander hängen kann. Ich hatte damals mein Schuppendach damit am Rande gedeckt, um etwas Licht reinzulassen und deshalb stand noch ein Rest herum. Ideal sind kleine Holzdübel zum Einwerfen.

Zweite Variante: Eierkarton - na ja, das hat jeder im Haus. Die innere Kartonrolle einer Küchenrolle ebenfalls. Und dann eine gebogene Nagelschere zum Löcher schneiden und Murmeln oder Steine. 

Dritte Variante: Selbst suchen, was einem gerade dafür ins Auge fällt. Eigene Variationen machen am meisten Spaß. 

Klar gibt es für Kurse mit Tablets inzwischen auch digitale Abstimmungs-Apps. Ich persönlich mag eben „Messgeräte“ zum Anfassen und Aufstellen. Geschmackssache.
Wie man am Ende messen lässt ist eigentlich völlig egal. Hauptsache man macht es.