Effectarium 4 - die Praxis

4. Lehren, was wirkt – Hattie als Wegweiser

 

Zu Beginn dieses Kapitels empfehle ich das Interview mit John Hattie. 

 

Denn um sich auf sein eigenes De-Implementierungskonzept einzudenken, benötigt man starke Rückendeckung. Stichwort „Schlechtes Gewissen“. 

Das richtige Reduzieren des eigenen Arbeitseinsatzes bedingt eine effektivere Lernleistung deiner eigenen Schüler:innen - das ist das eigentliche Ziel. Du bekommst mehr Zeit und deine Schüler:innen bessere Schulnoten. Du und deine Schüler:innen fühlen sich besser. Bildlich gesprochen: Du und deine Schüler:innen, ihr baut euch euer eigenes Effectarium. Mit der wissenschaftlichen Hattie-Studie im Hintergrund, um dein eigenes schlechtes Gewissen im Zaum zu halten. Also bitte immer das WinWin beachten.

 

Ich hatte leider mein ganzes Lehrerleben lang dieses doofe kleine schlechte Gewissen, das immer dann aus den Ritzen kroch, wenn etwas nicht so gut lief, wie mein ehrgeiziger Kopf dachte, dass es laufen müsste. Ich hatte aber glücklicherweise die starke mentale Rückendeckung als Vertrauenslehrer, die Abitursnoten meiner Schüler:innen stimmten und wir hatten einen Chef, der vertrauen und zulassen konnte. Glück auf der ganzen Linie. Aber ich denke, mit Hattie im Kopf und den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte kann man heute für sich und seine Schüler:innen, ohne dass sich jemand beschweren wird, den eigenen Unterricht positiv umstrukturieren. Und das im bestehenden Schulsystem. Eine Metamorphose in jahrhundertealten Gemäuern. Ich liste einmal ungeordnet als ersten Eindruck diejenigen Faktoren mit den höchsten Effektstärken aus den Hattie-Studienergebnissen der letzten Jahre auf, um danach dazu passend mit einem Beispiel von einer meiner schlechten Gewissensgeschichten von damals zu erzählen. 

 

In der 2023 veröffentlichten Fortsetzung „Visible Learning: The Sequel“ hat John Hattie seine ursprüngliche Metaanalyse erheblich erweitert. Die aktualisierte Studie umfasst nun über 2.100 Meta-Analysen, die auf mehr als 130.000 Einzelstudien basieren und Daten von über 400 Millionen Schüler:innen weltweit einbeziehen. In der Pharmaindustrie wären dabei schon Hunderte neuer Medikamente auf den Markt geworfen worden. In der Bildungsbranche ist leider die Suche nach Effektivität und die Umsetzung Wissenschaftlicher Studien nicht groß von Interesse. Schule ist einfach noch immer viel zu behäbig.

 

Faktoren mit hohem Einfluss auf die Lernleistung:

 

Selbstwirksamkeitserwartung - Strategien zur Evaluation und Reflexion - Klassendiskussionen - Feedback - Glaubwürdigkeit - Gruppengrößen bis 5 Schüler:innen - Gruppenpuzzle - Kollektive Wirksamkeitserwartung - Beurteilung des Peer-Leistungsniveaus -  Selbsteinschätzung des eigenen Lernens und Leistungsniveaus - Klarheit der Lehrperson - Reziprokes Lehren - Metakognitive Strategien - Direkte Instruktion - Leseförderungsprogramme - Kognitive Strategien - Lehrer-Schüler-Beziehung - Selbstreguliertes Lernen - Klassenzusammenhalt - Kognitive Strategien -  Kollektive Lehrerwirksamkeit - Formatives Assessment - Laufende Bewertung des Lernfortschritts der SchülerInnen, um den Unterricht entsprechend anzupassen - Lernstrategien der Schüler:innen…

 

Wenn ich mir diese Faktoren ansehe, dann muss ich immer spontan an ein uraltes Projekt denken, das ich zusammen mit zwei Oberstufenschüler:innen für meine 5. Klasse als Klassenlehrer erfunden hatte - 30 Jahre ist das nun her - unser Direktor hatte grünes Licht gegeben, die Eltern (ja es war damals eine ganz andere Zeit und viele Eltern wollten Veränderungen an der Schule sehen) waren irritiert, aber positiv einverstanden und am Ende stand für diese Schüler:innen - 9 Jahre später - ein Abitursschnitt im Raum, der mit 1,9 um 0,5 Notenpunkte besser war als der Durchschnitt der restlichen Abiturient:innen. 


Aber von Anfang an: Unsere Fünfklässler:innen hatten ein neues Fach bekommen: Grundbildung. Drei Wochenstunden im Stundenplan. Dafür eine Stunde weniger Deutsch, eine Stunde weniger Englisch und eine Stunde weniger Musik. Ich glaube, heute würden Eltern Kopf stehen. Damals lag Umbruch in der Luft. Also durften wir experimentieren. Wir, das war ich als Klassenlehrer ohne ein weiteres Fach außer unserer Grundbildung und zwei Assistentinnen - zwei Zwölftklässlerinnen, die ihre Freistunden vom Stundenplaner immer so gelegt bekamen, dass zumindest immer eine SchüLehr:in mit im Klassenzimmer war. Für mich waren diese beiden absolut vollwertige Kolleginnen, mit denen ich mutig vollkommenes Neuland betreten konnte.

 

Wir probierten in diesen 3 Stunden ein Jahr lang alles aus, was damals pädagogisch angesagt war. Deutsch, Englisch und Musik bauten wir natürlich in unsere Projekte mit ein … Songs schreiben, aufnehmen und produzieren, Zeitungen schreiben, Englische Texte, Filme drehen usw usw … und dann waren damals Ideen in der Welt der Schule angekommen, die bei uns etwa hießen: Störungsrunde. Also immer die Aussage im Blick: „Störungen haben Vorrang“. Jede Stunde hatte zu Beginn ihre Störungsrunde und man kann sich vorstellen, dass so eine Schule vor 30 Jahren für Schüler:innen mit viel Störungen aufwarten konnte. 

Na ja, wir hatten eben so eine wunderbare und spannende Idee. Fühlte sich allerdings manchmal auch sehr chaotisch für mich an.

Unsere Ziele: Am Ende ein „normales“ Abitur für unsere Fünfer …. Also damals Schnitt 2,3 in Baden-Württemberg … Aber: Sie sollten trotzdem „aufrecht“ durch die Schule gehen. Sich entwickeln können. Ihre Fähigkeiten finden dürfen. Stark werden. Wachsen dürfen. Und wollen. Den wunderbaren Lebensraum Schule selbstbewusst und selbstständig erobern können. Na ja, all solche tollen Dinge wollten wir mit unserer Grundbildung erreichen … 

 

Wen es genauer interessiert:  Die Idee kam aus einer ganz eigene Geschichte in dieser Geschichte. 

 

Tatsache war: Unser Schulleiter und die Eltern ließen uns machen. Obwohl wir keinen „Lehrplan“ für unser Fach hatten. Nur von Woche zu Woche dachten. Immer wieder anpassen mussten, weil große Ideen sich oft als Sackgasse herausstellten und kleine Ideen zu großen Straßen wurden. Heute würde ich unser Vorgehen als agiles Entwickeln einer großartigen Idee beschreiben. Damals mussten mich meine beiden SchüLehr:innen immer wieder aufbauen und mir den Rücken stärken. Gefühlt war es mir oft viel zu chaotisch … und die Selbstzweifel nagten regelmäßig - ein ganzes Jahr lang. 

 

Unsere Grundbildung lief nur 1 Jahr. Ein Jahr lang Hattie-Faktoren mit sehr hoher Effektstärke - Feedback, Feedback, Feedback … unentwegt Reflexionen … Klassengespräche … positiver Zoff … eigene Zeugnisse … jedes Schulfach war quasi nochmals von außen begleitet … und am Ende der 5. Klasse: „Normal gute Zeugnisnoten in den anderen Fächern“ … obwohl 3 Stunden weniger Deutsch, Englisch und Musik. Und es gab von uns spezielle Persönlichkeitsrückmeldungen. Man sah unseren Schüler:innen in der 5. Klasse nicht an, dass sie ein „Spezialprogramm“ durchlaufen hatten. 


Erst in der Mittelstufe - die Schüler:innen waren da schon lange in verschiedenen Klassen verstreut - bekam ich des öfteren „Prügel“ von älteren Kollegen. „Deine Grundbildungsschüler wollen immer diskutieren. Störungsrunde. Die nerven komplett. …“ Na ja, ich wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich auch noch nicht, wie erfolgreich es war, was wir da an wilder Pädagogik in der 5. Klasse ausprobiert hatten. 

Erst in der Oberstufe bekam ich dann meine gewünschte Rückmeldung: „Also Respekt. Deine Grundbildungsschüler, die machen den Mund auf. Die diskutieren mit. Die tragen meinen Unterricht. … „ Na klar, tat mir das sehr gut. Ich war vor mir selbst „rehabilitiert“. Mein Kollegium ertrug sowieso entspannt meine vielen Experimente. Der Grund: Meine Schüler:innen waren allermeistens mit meiner Schulmeisterei zufrieden und die Noten und Lernentwicklungen stimmten … und … die Abinoten waren meist über dem Durchschnitt. Das „schützte“ mich.


Am Ende, ich erwähnte es schon, war ich natürlich sehr neugierig, ob unser Abi-Ziel 2,3 Durchschnittsnote erreicht wurde. Ich hatte alle Listen ausgewertet … unsere Grundbildungsleute hatten prozentual ähnlich die Schule in der 10. Klasse Richtung TG oder WG verlassen wie die anderen Klassen. Also war „unser“ Schnitt über den Daumen gepeilt vergleichbar. Und ja, unsere Grundbildungsleute hatten einen sensationellen Abitursschnitt von 1,9 - der Rest der Stufe von 2,4. Durchschnitt der ganzen Stufe 2,3. 

 

Klar, mich weiß, es gab keine wissenschaftliche Begleitung des Projekts, es waren auch viel zu wenig Schüler:innen für etwa die klare Aussage: „Wenn du in der 5. Klasse Grundbildung machst, dann wird das Abitur im Durchschnitt sehr viel besser“. Aber es war nachträglich für mich selbst und meine beiden SchüLehr:innen - die damals schon Bald-Journalistin und Bald-Ärztin waren - eine tiefe Befriedigung. Verständlich, oder?


Nun will ich aber bitte niemand dazu bringen, auch so ein Experiment durchzuführen. Ich habe es auch nur einmal durchgeführt. Aber in den folgenden Jahren immer diese Grunderkenntnis aus unserer Grundbildung in alle meine Klassen mitgenommen. Schüler:innen können so viel effektiver arbeiten, wenn man sie zur Selbstständigkeit begleitet und ihnen Selbstbewusstsein mitgeben kann. Es gab mir sehr viel Sicherheit. Mit den oberen Hattie-Faktoren im Rucksack - ohne die Studie damals zu kennen - war ich entspannt unterwegs. Ich hatte mich speziell nach dem erfolgreichen Grundbildungsprojekt in meinen eigenen Effectarien wohlig einrichten können. Und gleichzeitig auch noch viele sehr befriedigende Projekte angestoßen und mitgestaltet. So würde ich das aus meiner heutigen Sicht beschreiben. Ich habe mich immer mehr auf die Selbstwirksamkeitskräfte meiner Schüler:innen verlassen und dabei selbst viele zeitfressende Lehrertätigkeiten zurückschrauben können. 

 

Ich würde hieraus für alle, die sich auf der Suche nach Zeitgefäßen für ihrem Lehrberuf befinden, den ersten Ratschlag geben: Hänge dir doch die Hattie-Faktoren mit hohen Effektstärken einfach mal über deinen Schreibtisch. Am besten einzeln und vielleicht schon mal geordnet nach Bereichen. Zum Beispiel geordnet nach 4 Bereichen:

Übergeordnet - Ziele: Lehrer-Schüler-Beziehung  - Klarheit der Lehrperson - Glaubwürdigkeit

Reflexionsebene - das Tun: Formative Evaluation - Feedback - Beurteilung des Peer-Leistungsniveaus - Selbsteinschätzung des eigenen Lernens und Leistungsniveaus - Strategien zur Evaluation und Reflexion

Mentale Ebene - das Denken: Klassenzusammenhalt - Kollektive Wirksamkeitserwartung - Selbstwirksamkeitserwartung - Metakognitive Strategien 

Unterrichtsebene - das Lehren: Klassendiskussionen - Gruppenpuzzle - Gruppengrößen bis 5 Schüler:innen - Kollektive Lehrerwirksamkeit - Direkte Instruktion - Selbstreguliertes Lernen - Kognitive Strategien - Lernstrategien der Schüler:innen - Reziprokes Lehren - Leseförderungsprogramme

 

Ich glaube, dass schon alleine diese Aktion, sich die Top-Faktoren der Hattie-Studie dauerhaft vor Augen zu halten, einem selbst mental etwas Wesentliches bringen kann. Denn diese Faktoren sind extrem wirksam. In ihnen finden sich meist Haltungen den Schüler:innen und dem Unterricht gegenüber. Sind also keine zeitfressenden Faktoren. Eher Denkfaktoren. Diese Top-Faktoren sind die Goldenen Schlüssel für dein Effectarium. Aber keine Sorge, ich werde das natürlich in den nächsten Kapiteln vertiefen.

 

Zum Schluss will ich hier noch eine kleine Geschichte erzählen, die mich früh auf die Spur der metakognitiven Strategien gebracht hat. Ich war junger Vertrauenslehrer - zwei Siebtklässlerinnen kamen hilfesuchend zu mir und berichteten aus ihrem Matheunterricht. „Unsere Mathelehrerin hat Lieblingskinder und uns beide hasst sie. Sie nimmt uns nie dran und wenn wir mal nicht aufpassen, dann ruft sie uns auf. Die Noten sind katastrophal … was können wir tun?“ Ich bat die beiden, in zwei Wochen wiederzukommen. Bis dahin würde ich mit der Kollegin reden. Als sie zwei Wochen später anrückten, hatte ich es komplett verschwitzt … es war mir ziemlich peinlich, deshalb fragte ich erst einmal, wie es denn inzwischen laufen würde. „Es ist ganz super, seit sie mit unserer Mathelehrerin gesprochen haben. Jetzt werden wir regelmäßig drangenommen, Mathe macht Spaß, sie ist auch freundlich zu uns und wir haben schon eine sehr gute Arbeit geschrieben.“ - Ich ließ es damals einfach so stehen. Meinte, wenn mal wieder was wäre, sollten sie wieder vorbeikommen.
Ich fand es großartig, was ich da erlebte. Die beiden Mädchen hatten sich wohl selbst auf ein neues Level gehoben, weil sie glaubten, ich hätte für sie ein gutes Wort eingelegt. Ein Placebo mit großer Wirkung. Ich habe natürlich direkt auch meine Kollegin auf die beiden Mädchen angesprochen. Ich kannte sie ja gar nicht. „Da ist ein Wunder passiert.“ meinte sie. „Keine Ahnung warum. Von einem Tag auf den anderen sind sie wie ausgewechselt. Während sie früher nur gequatscht haben, machen sie jetzt mit. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich hassen - warum auch immer. Jetzt sind sie voll dabei und haben auch schon beide eine richtig gute Arbeit geschrieben.“ Ich habe ihr dann die Geschichte erzählt und sie gebeten, den Mädchen nichts zu sagen.

Hattie würde wahrscheinlich Selbstwirksamkeitserwartung auf der Metaebene dazu sagen. Eine spezielle Art von Metakognitiver Strategie. Ich habe die Mathenoten beiden Mädchen bis zum Abitur verfolgt. In der Oberstufe haben dann beide Mathe-Leistungskurs gewählt und das Mathe-Abi mit 12 und 13 Punkten abgeschlossen. An der Abball-Bar habe ich ihnen einen Sekt ausgegeben und mit ihnen auf diese Geschichte angestoßen. Erst da habe ich ihnen gestanden, dass ich ihr Anliegen damals vergessen hatte. 😎

 

Es war für mich eine dieser Geschichten, wie ich mir Schule vorstellte: Wenn Schüler:innen mitziehen, weil sie das Gefühl haben, dass sie vertrauen können.  Wenn Kinder und Jugendliche selbst durchstarten können, weil die Lehrer-Schüler-Beziehung stimmt.

 

Lehrer-Schüler-Beziehung nenne ich persönlich immer lieber Lambda-Ebene - dazu mehr im nächsten Kapitel -

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