Effectarium 3 & Work-Life-Balance

3. Die Balance finden - Arbeiten, ohne sich zu verlieren

 

Ich versuche dieses Balance-finden einmal mit einem Rückblick auf mein eigenes Lehrerleben zu beschreiben. Als ich nach dem Abitur ins „Leben“ startete - ja ich finde, das Leben in der weiterführenden Schule ist schon voll das richtige Leben und wer selbst zurückblickt, weiß es auch - hieß das erst einmal Wirtschaftsingenieurs-Studium. Maschinenbau plus Betriebswirtschaft. „Er ist in Physik und Mathe top und kann gut mit Menschen umgehen.“ hieß es. Also Manager. 😎🥳 Damals konnte man mit Abi quasi alles studieren. Mit dieser Meinung meines Umfelds trudelte ich in ein Maschinenbaustudium, in dem ich nach 2 Semestern feststellte: Hilfe - Maschinen sind ja überhaupt nicht meine Welt. 

 

Ich springe ins Jahr 1977. Die Referendarszeit habe ich zu Beginn sehr mühsam erlebt, weil da ein junger Mann mit wilden Ideen in eine enge Welt eintauchte, die er sich anders vorgestellt hatte. Mentoren, die von einer anderen Welt sprachen als seine eigene pädagogische Welt im Kopf aussah.

 

Ich springe ins Jahr 2025. Schon aus der eigener uralten Erfahrung als Referendar finde ich unseren Ausbildungs-Ansatz von der Hochschule für agile Bildung in Zürich zukunftsweisend: Setze die jungen Referendar:innen mit ihrer eigenen pädagogischen Welt sofort verantwortlich in eine richtige Klasse und lasse sie von dieser Basis aus den eigenen Stil entwickeln - natürlich eng begleitet von einem Mentoring vor Ort und an der Hochschule. Mehr unter https://hfab.ch/2024/04/04/reflektierte-lehrpraxis/

 

Ich springe wieder zurück in meine eigene Referendarszeit. Als ich im zweiten Abschnitt selbstständig Klassen unterrichtete, fühlte ich mich schon viel wohler. Experimentiert habe ich damals noch nicht. Ich war vollauf mit meinem Unterrichtsstoff beschäftigt und mit der Herausforderung, ihn an meine Kunden zu bringen. Allerdings, vielleicht war das schon ein erster Ansatz meines Pädagogenhirns: Schüler:innen waren für mich schon immer Kunden und ich selbst war Dienstleiter. Mein Job: Lernende erfolgreich machen. Und persönlich nebenher zufrieden mein Leben mit Familie und Freunden leben. Mit meiner Abwendung vom Managerleben hatte ich ja meine „großen“  Karrieremöglichkeiten an der Garderobe abgegeben. Also war die Idee, die heute Work-Life-Balance heißt, schon gefühlt machbar. 

 

Ich begann als Lehrer 1979 und ich denke, ein glücklicher Umstand hat die Entwicklung meines persönlichen Ansatzes, zu unterrichten, geprägt. Ich wurde schon im zweiten Dienstjahr Vertrauenslehrer/Verbindungslehrer. 

 

(Erläuterung: In Baden-Württemberg werden Verbindungslehrer:innen – auch als Vertrauenslehrer:innen bekannt – vom Schülerrat für ein oder zwei Jahre gewählt. Es können bis zu drei Lehrkräfte dieses Amt übernehmen. 

Ihre Hauptaufgaben umfassen:

Beratung und Unterstützung der Schülermitverantwortung (SMV): Sie beraten die SMV, unterstützen sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und fördern die Verbindung zu Lehrern, Schulleitung und Eltern. 

Mitarbeit an der SMV-Satzung: Verbindungslehrer:innen wirken bei der Erarbeitung einer SMV-Satzung mit. 

Rechtliche Beratung: Sie informieren die Schüler:innen über ihre Rechte und Pflichten, beispielsweise in Bezug auf das Schulgesetz, die SMV-Verordnung, Notenverordnung sowie Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen. 

Teilnahme an SMV-Veranstaltungen: Verbindungslehrer:innen können an allen Veranstaltungen und Sitzungen der SMV teilnehmen und unterstützen bei der Planung, Genehmigung und Organisation von Veranstaltungen. 

Förderung der Kommunikation: Sie fördern den Kontakt zwischen Schüler:innen, Lehrer:innen, Schulleitung und Eltern und unterstützen die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zum Klassensprecher und Schülersprecher. 

Zudem erhalten Verbindungslehrer:innen in Absprache mit der Schulleitung einen Deputatsnachlass, da ihre Tätigkeit als Dienst gilt. )

 

 

Soweit die formale Beschreibung. Bei uns über all die Jahre: Eine Vertrauenslehrerin, zwei Vertrauenslehrer. Je eine Stunde Deputatsnachlass.

Aber natürlich: z.B. dieses „Verbindungslehrer:innen können an allen Veranstaltungen teilnehmen ….“ hieß für uns im Verbindungslehrer:innen-Team: Alle „Aufsichten“ führen. Oder „Sie fördern den Kontakt zwischen ….“ entsprach damals natürlich schnell der Aufgabe von Schulsozialarbeitern. 

Wir schreiben das Jahr 1980. 1400 Schüler:innen … der Höchststand von über 1500 Schüler:innen war überschritten (Ja stimmt, diese damaligen Abi-Jahrgänge gehen jetzt dann alle in Rente. Der häufigste Geburtstag 2024 war der 60. Geburtstag) … Rauchen und Bierausschank für die Oberstufe war noch das Normal … und unsere Schulfeten legendär. Riesig und nur zu stemmen mit einem starken und großen Organisationsteam. Das Verantwortung übernehmen musste, weil zwei Aufsichtspersonen zwischen 500 feiernden Schüler:innen in einer großen Aula samt Außenbezirken nur mit einem funktionierenden großen Schüler:innenteam zu stemmen war. Das war für mich der natürliche Einstieg in die Erkenntnis: Schule ist ein großartiger Lebensraum für junge Menschen in einer großartigen Lebenszeit. Und: Junge Menschen können über sich hinauswachsen, wenn man ihnen Verantwortung überträgt. 

 

Dabei mein eigenes Win in dieser „Aufsicht führen“-Sache war: Ich verlor bald die „Angst vor Schüler:innen“. Ich konnte irgendwann schwimmen wie ein Fisch im Wasser. Keine Ahnung, ob diese „Angst“ was sehr Verbreitetes ist. Manche Studie vermuten es. Aber es ist natürlich ein Tabu-Thema. Man spricht mit Kollegen wenig darüber, wie der Puls sich verändert, wenn man seine Klasse betritt. Aus meiner Sicht zurück würde ich diese Angst als natürliches Lampenfieber beschreiben, das man hat, wenn man gut auf der Bühne sein will. Und ja, man kann diese Angst überwinden, dass sie am Ende immer nur noch bei neuen Projekten auftaucht. Dieses kribbelnde kleine Lampenfieber sollte man allerdings einfach nicht verlieren. Mein Tipp für Neulinge: Tauscht euch über eure Ängste aus, es nimmt die Angst. Und schaut euch die späteren Beispiele an, wie ich heute als Neuling konkret daran arbeiten würde - ganz ohne Vertrauenslehrerjob und Schulfetenaufsicht.

 

Zurück zum sich „Verlieren im Job“: In so einer Aufgabe als Vertrauenslehrer kann man sich und die Balance leicht verlieren. Denn ich hatte ja nebenbei auch das Glück, dass mir diese Welt der Feste schon immer gefiel und ich mich dort wohl fühlte - sicher eingebunden in ein großes aktives Schüler:innenteam. Deshalb: Wir blieben fast ein Vierteljahrhundert das immer wieder gewählte Vertrauenslehrerteam … na ja, wir waren und blieben eben auch lange Zeit die Jüngsten … die Schülerzahlen gingen stark zurück und neue Lehrer:innen wurden nicht mehr eingestellt. Unser Kollegium alterte fast 20 Jahre gemeinsam vor sich hin und unser Vertrauenslehrerteam feierte, vermittelte, beriet, entwickelte und mir fiel es nebenbei irgendwann tief nachts an der Abibar wie Schuppen von den Augen: Schüler:innen sind ganz normale Menschen. Nur eben junge. Und manchmal in der Mittelstufe etwas schräge, weil mit dem Gehirnumbau beschäftigt. Also Pubertät eben. Und die erwischt nicht jeden gleich. 

Bei unseren Abibällen kamen nachts um 12 immer viele Ehemalige zum Feiern. Wenn die Eltern gingen, fing die Fete erst richtig an. Die 13er feierten, die 12er stellten das Organisationsteam und klar: Jemand musste morgens um 3 oder 4 das Schulhaus abschließen … also wir. Aber aus heutiger Sicht muss ich sagen: Wir fühlten uns immer verantwortungsgeschützt durch die starken 12er und auch durch die Ehemaligen. 

Die Gespräche mit Ehemaligen waren für mich wirksame pädagogische Medizin. Die Erkenntnis, dass auch die wildesten und schrägsten Mittelstüfler am Ende ganz normale erwachsene studierende oder berufstätige Menschen wurden, ist zwar eigentlich jedem klar, aber wer in einer Mittelstufenklasse als Physiklehrer versucht, das Ohm‘sche Gesetz als wichtige Erkenntnis an die Kunden zu bringen, der zweifelt doch manchmal ziemlich daran. 🥳

 

Ich erzähle diesen Teil meines Lehrerdaseins, weil man sich so besser vorstellen kann, warum Schule-machen keinen klar begrenzten Raum darstellt, sobald man beginnt, sich außerhalb eines festgelegten planmäßigen Rahmens namens Fachunterrichts zu bewegen. Jede Neuerung, jede Idee, jede Veränderung, jedes pädagogische Experiment benötigt Zeit. Für mich damals diese großartige Welt der aktiven Schüler:innen mit den vielen Festen und Herausforderungen und die ganze Vermittlungstätigkeit zwischen Schüler:innen in Not und Kolleg:innen. Auch Sozialarbeit kennt erst einmal keine festgelegten Zeiten. 

 

Das Kapitel heißt aber „Die Balance finden - Arbeiten, ohne sich zu verlieren.“

Im Nachhinein stelle ich fest: Ich war schon damals ein WinWin-Egoist mit der Erfahrung, wie Schüler:innen ticken. Und forderte das auf der Klassenebene ein. Meine „Antrittsreden“ in neuen Klassen war schon früh immer ähnlich strukturiert: „Ich erwarte von euch, dass ihr mich gut behandelt und ernst nehmt. Nur dann kann ich euch auch gut und fair behandeln und auch ernst nehmen. Ich weiß, dass ihr die künftigen Leistungsträger unserer Gesellschaft seid. Da könnt ihr im Moment Schule noch so doof finden. Keine Chance für euch, einer soliden  beruflichen Zukunft zu entkommen. Die Gesellschaft steckt nicht so viel Geld (heute rund 10.000 € pro Jahr pro Schüler:in) in eure Ausbildung, zahlt mich als Lehrer und das Schulhaus, dass ich euch unterrichten kann, ohne dass sie etwas davon hat. Deshalb will ich zuallererst einmal wissen, mit wem ich es in 15 Jahren zu tun habe.“ 

 

Ja ich denke, dieses frühe Fragen nach dem „Wer bist du in 15 Jahren“ hat es mir erleichtert, entspannten Unterricht zu machen - mit Schüler:innen, die mich mit all meinen Stärken und Schwächen ernst nehmen konnten, ohne dass ich mit dem Korsett einer strengen Notengebung arbeiten musste - und trotzdem ganz gute Ergebnisse erzielen konnte. Im Nachhinein steckte da schon mein Geheimnis der De-Implementierung, der Mythos meines kleinen Effectariums. Dadurch, dass ich meinen Schüler:innen offensichtlich glaubhaft machen konnte, dass es mich überhaupt nicht stören würde, wenn sie meine Fächer Mathematik oder Physik total blöd finden würden und dass ich es niemals jemand zum Vorwurf machen würde, wenn sie oder er deshalb schlechte Noten im Zeugnis stehen hätten, ließ mich offensichtlich selbst die „schwierigsten“ Schüler:innen bei Laune halten. 

 

Mein Fazit zum Kapitel: Die ersten 10 Jahre des Heinz Bayer als Gymnasiallehrer lautet: Ich habe mich fachlich immer durchschnittlich gut eingeschätzt - verglichen mit meinen Kolleg:innen. Ich musste viel vorbereiten, bis sich z.B. mein verwissenschaftlichter Physik-Hochschulkopf in einen normalen „Wie bring ich die Newton‘sche Grundgleichung am besten auch einer späteren Juristin nahe“- Kopf  zu verwandeln. Aber ich konnte gefühlt „zusammen mit meinen Schüler:innen“ ziemlich effektiv in meinen eigenen individuellen Klassenwelten arbeiten, ohne mich dabei zu verausgaben. Es gab ein gemeinsames Ziel, ich war der Dienstleister, meine Kunden sollten das Ziel erreichen. Und wenn ein Kunde gerade mal nicht wollte, dann ging in meinem Effectarium die Welt nicht unter. 

 

Ich weiß, das ist noch keine Anleitung zu „Wie baue ich mir mein Effectarium?“ Denn meine Situation vor 45 Jahren ist natürlich heute nicht so wiederholbar. Schon allein unsere vielen und wilden Feste würden heute nicht mehr genehmigt, weil sie gegen so viele Sicherheitsvorschriften verstoßen würden. Deshalb: Nehmt es bitte erst einmal als die Erzählung eines alten Schulmeisters aus vergangenen Tagen, die so nicht mehr wiederkommen können. 

Aber die Story dahinter, wie man sich auch heute als junge Lehrperson (natürlich auch als alte 😎) seine eigene smarte Schule in der Schule einrichten kann, das wird in diesem Buch Stück für Stück vorgeschlagen … denn dahinter versteckt durch die Hattie-Brille angesehen ein sehr einfaches Konzept.