Kapitel 2: De-Implementierung – Was ist das?
1. De-Implementierung bedeutet, bewusst auf Aktivitäten, Methoden oder Gewohnheiten zu verzichten, die wenig Wirkung haben, um Raum für das zu schaffen, was wirklich zählt.
Das Ziel: Zeit, Energie und Ressourcen für Aktivitäten freizusetzen, die eine hohe Effektivität und nachhaltige Ergebnisse erzielen.
Gemeinerweise trifft es ja oft genau die Falschen mit dieser typischen Überlastung. Diejenigen Lehrkräfte, die mit einem hohen Ehrgeiz an die Schule kommen und gute Ideen und neue Konzepte allzu gerne ausprobieren. Es sind genau die Lehrkräfte, die Schule eigentlich braucht, um sie so zu verändern, dass sie zu unserer Welt passt. Wenn du zu diesen Lehrkräften gehörst, die auch so denken, bist du hier genau richtig. Wenn du meinst, dass die heutige Schule eigentlich gut in die Zeit passt und sich nichts verändern müsste, dann wirst du hier vielleicht doch noch deine Meinung ändern, solltest du hier weiter folgen.
Ich sage bitte immer eines dazu. Meine praktischen Beispiele stammen aus meiner aktiven Lehrerzeit an einem Gymnasium. Ich denke aber, dass sich die allermeisten Gedanken genauso für Gemeinschaftsschulen oder Realschulen denken lassen. Nur vielleicht mit anderen Beispielen.
Überlastung ist das zentrale Thema … und natürlich kann am Ende Burnout stehen. Soweit will ich aber gar nicht gehen. Ich finde es einfach nur sehr, sehr schade, dass es so viele Lehrer:innen gibt, die einen ganzen Strauß von neuen Ideen mit sich herumtragen, den sie aber nie in eine bunte Vase stecken können, um sich daran zu erfreuen, weil der Schulalltag scheinbar keine Zeit dafür lässt. Am Ende vertrocknet der Strauß und ja, ich finde, das muss überhaupt nicht sein.
Die Idee hinter der De-Implementierung heißt also: Weg mit dem Fokus auf unwirksame oder zeitaufwendige Aufgaben, denn der blockiert die Kreativität und Zufriedenheit im Job.
Studien, wie die Hattie-Studie, zeigen, dass viele Aktivitäten mit niedriger Effektstärke, die häufig von Lehrpersonen eingesetzt werden, nur minimal zum Lernerfolg beitragen.
Also muss eine neue Denkweise her: De-Implementierung ist kein „Nichtstun“, sondern eine bewusste Entscheidung für Qualität statt Quantität.
2. Warum fällt es uns so schwer, Dinge wegzulassen?
Da ist auf alle Fälle die Angst vor Kritik: Lehrer:innen befürchten oft, dass sie von Schüler:innen, Eltern oder Kolleg:innen als „faul“ wahrgenommen werden, wenn sie Aufgaben reduzieren.
Außerdem stehen Gewohnheiten und Traditionen im Weg: Bestimmte Tätigkeiten wie Hausaufgaben geben und Hausaufgabenkontrollen gelten als „normal“. Es fehlt oft der Mut, traditionelle Praktiken zu hinterfragen. Im „normalen“ Schulsetting sind z.B. „normale“ Hausaufgaben oftmals wenig zielführend. Sie beruhigen dann eher den Lehrer als dass es die Lernenden wirklich weiterbringt. Ich werde später genau an diesem Beispiel einmal ansetzen. Keine Sorge, ich verurteile keine Hausaufgaben, auch wenn sie in der Hattie-Studie eine sehr geringe Effektstärke besitzen. Die formative Evaluation des Unterrichts hat dagegen eine sehr hohe Effektstärke. Fakt ist aber: Hausaufgaben geben fast alle Lehrkräfte. Regelmäßiges, den Unterricht begleitendes Feedback die Allerwenigsten. Wer sich also aufmachen will, sich sein eigenes Effectarium in den uralten Schulgemäuern zu bauen, der sollte sich an solchen unterschiedlichen Faktoren orientieren und in kleinen Schritten umbauen. Weniger Zeit in den wenig effektiven Bereich investieren, dafür mehr in den effektiven Bereich. That‘s it. Die Leistungen bleiben konstant oder steigen und man schafft sich viel Luft für eine erfolgreiche eigene Unterrichtsentwicklung.
Ich habe schon im ersten Kapitel von meinen großen eigenen Selbstzweifeln erzählt, weil ich natürlich als junger Kollege wie alle anderen auch auf die „großen“ erfahrenen Kolleg:innen geschaut habe. Und dort waren die Strukturen eben so, „wie man Gymnasium immer schon gemacht hat“. Das Fach im Vordergrund. Dafür wurden wir immerhin ausgebildet.
Als Vertrauenslehrer hatte ich riesiges Glück, vollautomatisch den Unterricht vieler meiner Kolleg:innen durch die Augen der Schüler:innen betrachten zu können - so wie John Hattie es immer wieder fordert: „Man muss den eigenen Unterricht durch die Augen seiner Schüler:innen betrachten lernen“. Wie ich das für meinen eigenen Unterricht selbst schon sehr früh angefangen habe, dazu später mehr. Das wesentliche Stichwort dazu aber lautete natürlich: Feedback.
Ich habe zu Beginn meiner „Schulzeit“ nicht gleich angefangen, zu de-implementieren. Ich habe Unterricht streng nach Regeln gemacht. Wollte nicht auffallen. Hausaufgaben, mündliche Noten, penibles Korrigieren, exakte Notenschnitte - unangreifbar. Aber unzufrieden. Junge Menschen mit scheinbar exakten Noten zu bewerten war einfach nicht meine Welt, in der ich mich wohl fühlte. Aber ich konnte sie natürlich nur bedingt verlassen.
3. Der heutige wissenschaftliche Hintergrund:
Nach meiner Pensionierung habe ich mich viel mit Bildungsstudien beschäftigt. Wurde LUUISE-Coach in der Schweiz. Formative Evaluation, eine spezielle Form von regelmäßigem Feedback parallel zum Unterrichten. In der Hattie-Studie wie erwähnt mit einer sehr hohe Effektstärke bewertet. Das LUUISE Konzept von Prof. Dr. Wolfgang Beywl basiert genau auf dieser formativen Evaluation mit der hohen Effektstärke. Rückwirkend kann ich heute mit dieser Studie im Rücken all mein schlechtes Gewissen von damals abschütteln. Ja ich weiß, ein bißchen spät. Aber für dich als aktive Lehrperson ja sicher von Interesse.
Was ist die Hattie-Studie?
Die Hattie-Studie ist die größte Bildungsstudie weltweit, die als Metastudie extrem vieler Bildungsstudien dieser Welt zu verstehen ist. John Hattie hat alle Bildungs-Untersuchungen akribisch zusammengefasst und die Effektivität „gemessen“. Daraus entstand dann eine lange Liste von Faktoren mit Effektstärken, die man als Lehrer:in kennen sollte. Weiß ich heute, aber als aktiver Lehrer hatte ich damals leider nicht „die Zeit“, mich mit der Studie genauer zum befassen. 😎
Die Hattie-Studie bietet eine klare Orientierung, um Aktivitäten nach ihrer Wirkung zu priorisieren. Das nimmt vollautomatisch schlechtes Gewissen weg, wenn man Nichteffektives durch Effektives ersetzt und dadurch auch noch Zeit bekommt. Ein wertvolles Gut für jeden Lehrer.
4. Wie funktioniert nun De-Implementierung konkret? Ein Vorschlag.
Vielleicht so:
Schritt 1: Analyse des Ist-Zustands: Liste alle Tätigkeiten auf, die deinen Arbeitsalltag bestimmen.
Frage dich: „Welche dieser Aufgaben haben eine direkte und nachhaltige Wirkung auf den Lernerfolg meiner Schüler:innen?“ Die Effektstärken der Hattie-Studie können helfen. Dazu komme ich später noch ausführlich.
Schritt 2: Unterscheidung zwischen „Must-have“ und „Nice-to-have“. Ein Beispiel: Nach der Hattie-Studie könnte „Hausaufgaben korrigieren“ ein „Nice-to-have“ für dich sein, während „individuelles Feedback“ ein „Must-have“ ist.
Schritt 3: Reduzieren oder weglassen: Identifiziere Tätigkeiten mit niedriger Effektstärke und finde Alternativen oder reduziere ihren Umfang.
Schritt 4: Zeit neu nutzen: Nutze die gewonnene Zeit für Tätigkeiten mit hoher Wirkung, z. B. individuelle Betreuung, Beziehungsarbeit oder innovative Projekte.
5. Aber alles bitte ganz langsam beginnen.
Wenn man sich zum Beispiel vorstellen könnte, eigene Zeit bei den Hausaufgaben einzusparen, um sie durch andere neue Faktoren zu ersetzen, dann kann man solche Veränderungen ja wirklich in ganz kleinen Schritten beginnen. Ausprobieren, ob Hattie bei der eigenen Klasse recht hat. Ob man mit z.B. formativer Evaluation viel Zeit sparen kann, um den Unterricht für die Schüler:innen effektiver zu machen. Und sich selbst dadurch besser zu fühlen und Zeit zu gewinnen. Ich sehe übrigens die genauen Zahlen für die Effektstärken bei Hattie nur als Anhaltspunkte, mit denen ich meine eigenen früheren De-Implementierungsumsetzungen heute wunderbar begründen kann. 😎
Auch das sollte ich erwähnen: Ich war neben der großen Lust, Schule neu zu denken, immer auch bekennender Egoist: Ich wollte mich in meiner Rolle als erfolgreicher Lehrer auch immer wohlfühlen. Konkret: Ich wollte einerseits ein erfolgreicher Lehrer sein, der sich aber auch in am Ende in vielen außerunterrichtlichen Projekten „herumtreiben“ durfte, um Schule als echten Berufs-Lebensraum genießen zu können. Im eigenen Effectarium. 😎 In der eigenen kleinen Schule in der Schule.