Das Effectarium -
Eine Anleitung zur De-Implementierung in jahrhundertealten Gemäuern
Also gut, wie versprochen, ich beginne mein Skript zum Thema „Reduce to the Max“ für Gymnasial-Lehrer:innen - und für Lehrpersonen aller Schularten, die die Aussagen dieses späteren Büchleins für ihre eigenen Bedingungen anpassen wollen. Als ehemaliger Schulmeister erzähle ich von vielen praktische Erfahrungen aus meiner eigenen „Schulzeit“ - und diese Lebensphase verbrachte ich eben am Faust-Gymnasium Staufen südlich Freiburg. Anderen Schulformen fehlen natürlich die „alten Schüler:innen“ - trotzdem: Ein Effectarium kann man sich aber überall bauen. Auch außerhalb der Schule.
Damit ich mich selbst nicht in 35 Jahren Schulmeisterdasein verliere, habe ich mir ein erster grobes Kapitelraster gebastelt, das ich in der Folge hier bloggen werde, um am Ende ein Büchlein zum Verschenken an gestresste Lehrer:innen daraus zusammenzustellen:
Teil 1: Der Ausgangspunkt – Warum De-Implementierung?
1. Einleitung: Das Problem der Überforderung im Lehrerberuf
2. De-Implementierung: Was ist das?
3. Die Balance finden: Arbeiten, ohne sich selbst zu verlieren
Teil 2: Die Praxis der De-Implementierung
4. Lehren, was wirkt – Hattie als Wegweiser
5. Was weglassen? – Faktoren mit geringen Effektstärken
6. Die Kunst des Weglassens: Wie fange ich an?
Teil 3: Luft für Neues – Wie Projekte gedeihen
7. Eine Schule in der Schule: Dein Effectarium
8. Mit Schüler:innen auf Augenhöhe arbeiten
9. Von der SchüLehr:innenschule zum Lebensraum Schule
Teil 4: Der Leitfaden für die Praxis
10. Ein konkretes Jahr der De-Implementierung
11. Persönliche Beispiele und Anekdoten
12. Schlusskapitel: Dein persönliches Effectarium entwickeln
1. Einleitung: Das Problem der Überforderung im Lehrerberuf
Der Lehrerberuf ist einer der vielseitigsten und gleichzeitig herausforderndsten Berufe überhaupt. Während in den meisten anderen Berufen klar definierte Arbeitszeiten und Aufgaben gelten, erleben Lehrer:innen häufig eine nie endende To-do-Liste. Unterricht vorbereiten, Noten geben, Konferenzen besuchen, Hausaufgaben kontrollieren, Gespräche mit Eltern führen – all das erzeugt einen enormen Druck. Studien zeigen, dass der Lehrerberuf zu den Berufen mit den höchsten Burnout-Raten gehört.
Doch warum ist das so?
Eigentlich bietet der Lehrerberuf – besonders in Deutschland – eine außergewöhnliche Freiheit. Im eigenen Klassenzimmer ist jede Lehrkraft quasi ihre eigene Chefin, mit nahezu unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten. Der Beamtenstatus sorgt für Sicherheit, und theoretisch gäbe es jede Menge Raum, den Unterricht nach den eigenen Stärken zu entwickeln. Doch in der Realität fühlt sich das meist ganz anders an: Viele Lehrer:innen fühlen sich gefangen in einem System aus Lehrplänen, Notendruck und scheinbar unverzichtbaren Aufgaben, die sie bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit treiben.
Überforderung schadet – dir und deinen Schüler:innen
Überforderung ist nicht nur für die Lehrkraft selbst problematisch – sie hat direkte Auswirkungen auf die Schüler:innen. Wer chronisch müde ist, wer kaum noch Zeit für Erholung findet, wird zwangsläufig weniger aufmerksam, weniger geduldig und weniger effektiv unterrichten. Es ist ein Teufelskreis: Mehr Arbeit bringt oft nicht mehr Ergebnisse, sondern mindert die Qualität.
Die Forschung gibt mir hier recht: Eine Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung zeigt, dass Lehrer:innen mit einer ausgewogenen Work-Life-Balance motivierter, kreativer und effektiver sind. Auch die Hattie-Studie belegt, dass Lehrer-Schüler-Beziehungen mit einer hohen Effektstärke zu den einflussreichsten Faktoren für Lernerfolg gehören. Was bedeutet das? Dein Wohlbefinden und deine Beziehung zu deinen Schüler:innen zählen mehr als jede akribische Hausaufgabenkontrolle oder das exakte Abarbeiten eines Lehrplans.
Der Mythos: „Wer mehr macht, erreicht mehr“
Eine der hartnäckigsten Überzeugungen im Lehrerberuf ist die Idee, dass mehr Arbeit automatisch zu besseren Ergebnissen führt. Doch das ist ein Trugschluss. Viele Lehrer:innen opfern unzählige Stunden für Aufgaben mit minimalem Nutzen – sei es das Kontrollieren jeder Hausaufgabe, mündliche Noten durch Abfragen oder das Erstellen und Korrigieren von Zusatztests. Diese Tätigkeiten bringen weder signifikante Lernzuwächse noch schaffen sie nachhaltige Bildung.
Ich habe in meinen 35 Jahren als Gymnasiallehrerdasein oft erlebt, dass weniger viel mehr sein kann. Mein Maßstab war stets: Meine Schüler:innen sollen den allgemeinen Leistungsstandard erreichen, aber gleichzeitig nachhaltig lernen und sich in dieser faszinierenden Lebenszeit des Erwachsenwerdens möglichst wohlfühlen.
Das sage ich aber heute nur aus der rückblickenden Perspektive eines seit 10 Jahren pensionierten Schulmeisters, der sich trotzdem noch lange nicht von der Schulentwicklung verabschiedet hat. Vielleicht auch meinem Großvaterdasein geschuldet, denn diese aktuellen Schulgeschichten berühren auch Großeltern-Generationen enorm.
Damals war es eher Zufällen und Randbedingungen geschuldet als einem echten Plan zum Reduzieren.
Schule ist ein so spannender Kosmos, dass ich noch immer äußerst lustvoll Lehrer:innen erfahrungsbegleite und mit unserer kleinen, aber feinen Hochschule für agile Bildung in Zürich auch eine
wunderbare Austausch-Basisstation gefunden habe. www.hfab.ch
Deshalb kann ich meine früheren praktischen Erfahrungen mit diesem „Reduce to the Max“ heute auch mit einer speziellen Brille anschauen, die mir ermöglicht, frühere persönliche Unterrichtsgeschichten mit wissenschaftlichem Hintergrund verknüpfen zu können.
Ich war als Lehrer immer Experimentierer und gleichzeitig großer Selbstzweifler. Die „großen“ Kollegen waren scheinbar immer so sicher, dass sie „richtig“ unterrichten. Ich dagegen war immer auf der Suche. Noch im letzten Schuljahr hatte ich manchmal den verrückten Gedanken im Kopf, den Beruf verfehlt zu haben. Heute weiß ich: Wer meint, beim „richtigen Unterrichten“ angekommen zu sein, der liegt vollkommen falsch.
Ich kam als einer der Letzten meiner Generation an meiner Schule im Schuldienst an. 1979. Danach gingen die Schülerzahlen zurück und danach wurde fast niemand mehr eingestellt. Beinah 20 Jahre lang. Ein Grund, warum ich mit meinem Vertrauenslehrerteam über 20 Jahre „gewirkt“ habe. Schülerfeten mitplanen und Aufsichten führen. Immer mit den aktivsten Schüler:innen zusammenarbeiten. Wir waren immer die, die morgens um 4 nach einem Abiball, das Schulhaus abschlossen oder nach einem unserer großen Open Air Veranstaltungen früh morgens den Müll mit unseren aktiven Schüler:innen wegräumten, damit unser Kollegium nicht genervt war von unseren Aktivitäten und einen Grund zum Aufregen hatte.
Wir waren über 20 Jahre Vermittler zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen .. haben Eltern beraten und beruhigt … waren Sozialarbeiter und Schülerberater in einem … und alles mit 1 Stunde Deputatsnachlass. Ich werde später noch genauer darauf eingehen. Hier nur soviel: Ich hatte schlicht keine Zeit, neben meiner Arbeit als Vertrauenslehrer, meinen „normalen“ Unterricht als Mathe-, Geografie- und Physiklehrer „normal“ zu gestalten, ohne mich dabei selbst zu verheizen. Immerhin war ich Vater zweier Töchter und hatte auch den Anspruch, ein Vater zu sein, der Zeit für seine Kinder hat.
Ich hatte zu Beginn meines Lehrerdaseins schon immer große Bedenken und oft ein sehr schlechtes Gewissen, Dinge einfach nicht so zu machen wie alle sie machten.
Intuitiv wichtig war mir deshalb immer eines: Lehrer, die nach mir eine Klasse übernahmen, sollten nicht das Gefühl haben, sie hätten bei mir zu wenig Mathe oder Physik gelernt. Mein Ruf als „guter Lehrer mit effektivem Unterricht“ für mein Kollegium war mir wichtig … wie ich das anstellte, war meine Sache. Fand ich. Aber klar: Immer mit großen Selbstzweifeln gepaart. Und natürlich waren die Abitursschnitte meiner Leistungskurse etwas, was aus meinem kleinen Kurskosmos nach außen trat. Natürlich wollte ich auch, dass diese Noten für meine Schüler:innen am Ende möglichst gut waren, waren sie doch immerhin Schlussnoten, die sie je nach Numerus Clausus und Studienwunsch von Bedeutung sein konnten. Noch wichtiger waren sie natürlich für das Selbstbewusstsein.
Ja das waren meine Rahmenrichtlinien, die ich mir selbst vorgegeben hatte. Damit ließ es sich gut leben, speziell als Vertrauenslehrer. Wer die Schülerschaft auf seiner Seite weiß und einen „ordentlichen“ und effektiven Unterricht macht mit „ordentlichen“ Noten, der kann sich in seinem eigenen kleinen Lebensraum Klassenzimmer sehr viele Freiheiten erlauben.
Ich nehme für dieses Skript einfach einmal den Arbeitstitel „Effectarium“ - wie ein Aquarium mitten in der Schule, in der sich die Bewohner quicklebendig fühlen wie Fische im Wasser - im Gegensatz zum Umfeld, in dem die Fische auf dem Trockenen sitzen.
Die Entwicklung meines eigenen Effectariums unterlag der Idee, dass Unterricht sich nur immer mit den Schüler:innen selbst entwickeln kann. Ziel: Fähigkeiten und Selbstbewusstsein entwickeln. Weg dahin: Immer wieder anders. Nach 10 Jahren Auseinandersetzung mit agilen bzw entwicklungsorientierten Bildungskonzepten und vielen Bildungsstudien - nach meiner Pensionierung - kann ich sagen: Ich habe mir damals intuitiv und auch aus Zeitmangel meine eigene kleine entwicklungsorientierte Schule in jahrhundertealten Gemäuern des gymnasialen Bildungskonzepts gebastelt und mich darin ungeheuer wohl gefühlt.
Grundmotto dieses Büchleins: Mach dich frei von scheinbaren Zwängen.
Das Geheimnis eines erfüllenden Lehrerlebens liegt darin, mutig, gelassen und zielorientiert zu handeln. Und Selbstzweifel mit Gleichgesinnten immer wieder aus dem Weg räumen. Du musst nicht alles machen, was „alle machen“. Du darfst weglassen, was keine Wirkung hat. Was zählt, ist die Effektivität deines Unterrichts – und am effektivsten ist er, wenn sowohl du als auch deine Schüler:innen sich wohlfühlen. Wenn du dich frei machst von unnötigen Zwängen, kannst du nicht nur besser unterrichten, sondern auch die Zeit finden, spannende Projekte zu starten, Beziehungen zu deinen Schüler:innen zu stärken und dich selbst wieder mehr als Gestalter:in zu erleben.
Das Effectarium, von dem dieses Buch handelt, ist genau das: Ein Konzept, das dir erlaubt, deinen persönlichen Raum in der Schule zu schaffen. Ein Lebensraum, in dem du und deine Schüler:innen stark werden können, ihr euch entwickelt und gemeinsam wachsen könnt.
Dieses Buch kann dich vielleicht dabei unterstützen, wie du mit der richtigen Mischung aus wissenschaftlicher Erkenntnis und meiner früheren persönlicher Erfahrung deine eigene kleine Schule in der Schule gestalten kannst. Dein Effectarium – und zwar ohne schlechtes Gewissen. Selbstzweifel werde ich dir allerdings nicht nehmen können. Ich glaube, die gehören zu einer „guten“ Lehrperson einfach dazu.
Heinz Bayer alias Otto Kraz - Freiburg, 13. Januar 2025