De-Implementierung - Flexi und Versetzungsgeschichten

Die schnelle Bilderklärung - üblicherweise empfiehlt man versetzungsgefährdeten Schüler:innen Nachhilfe in den Fächern, in denen sie die schlechte Noten haben. Ein teurer und oft nicht wirklich hilfreicher Weg - außer die Nachhilfe vermittelt gleichzeitig die Erkenntnis, warum die allermeisten Schüler:innen überhaupt sitzenbleiben. Die beste und nachhaltigste Lösung sieht völlig anders aus. Siehe Blogbeitrag.

 


Um zu de-implementieren, also um alte liebgewonnene Gewohnheiten über Bord zu werfen, um sich Neuem zuzuwenden, ist Flexibilität gefragt. Denn es gibt keinen Plan, der zum Ziel führt. Es gibt nur das Ziel und der Weg dahin muss in kleinen Schritten mit dauerndem Feedback kontinuierlich optimiert werden. Kein noch so toll daherkommendes Konzept kann man 1:1 für die eigene Klasse übernehmen. Denn gute Konzepte müssen zusammen mit den eigenen Schüler:innen abgestimmt und angepasst werden. „Alle Fünf“ heißt die Erfolgsformel. Nicht nur ein starker Framy. Wer z.B. Hausaufgaben und ihre Überprüfungen reduzieren will, muss das mit seiner Klasse absprechen. Teamy. Die Schüler:innen müssen verstehen, dass die Reduzierung nicht weniger Arbeit heißt, sondern nur eine Änderung der Arbeit. Da Feedy immer mit im Boot ist, fehlt es nie an Arbeit. Feedback ist Arbeit, auch wenn es scheinbar leichtfüßig daherkommt. Denn Feedback ist oft schmerzhaft und verlangt Einsatz danach.

 

Schritt 1 sollte immer die Reduzierung der eigenen Arbeitszeit sein … man sollte dies nicht auf später verschieben. Die Hattie-Studie kann dabei eine perfekte Unterstützung darstellen. Am Ende von Visible Learning 2020 kann man sich die Faktoren mit den geringen Effektstärken heraussuchen, die man reduzieren könnte, um Zeit zu gewinnen. https://www.kas.de/de/einzeltitel/-/content/visible-learning-2020 

 

Wissenschaft verhindert dabei schlechtes Gewissen. Das schlechte Gewissen, das natürlich immer versuchen wird, sich einzustellen. Weil, nehmen wir einmal die Sache mit den Hausaufgaben, De-Implementierung von den allermeisten Kolleg:innen eher kritisch beäugt wird. Wer aber das Paket der wirksamen Fünf in der Werkzeugkiste mit sich führt, kann jedem kritischen Kollegen klarmachen, dass hier nicht Faulheit, sondern die pädagogische Zukunft Regie führt. Reduktion von alten Gewohnheiten und Einführung neuer Konzepte - alles muss mit Flexi abgestimmt werden. Goaly muss für alle klar sein, der Weg dahin heißt Flexi: Ausprobieren, verwerfen, ändern, neu planen, testen, optimieren, anpassen usw usw. Veränderung und Optimierung im Tun ist das Wesen agiler Prozesse - auch in der Schule.

 

Flexi und das verrückte Versetzungskonzept für gefährdete Schüler:innen

 

Ja, lange her … und vielseitig weiterentwickelt. Dieses verrückte Versetzungskonzept aus dem alten Faust-Gymnasium in Staufen. Wir hatten 5 kleine siebte und 5 kleine achte Klassen - äußerst knapp über dem Klassenteiler. Eigentlich sollte niemand sitzenbleiben. Leider waren in allen 10 Klassen 10 Wochen vor den Zeugniskonferenzen im Schnitt etwa 4 stark versetzungsgefährdete Schüler:innen. 

Der normale Verlauf wäre gewesen, dass wir uns am Ende selbst schlechtere Unterrichtsbedingungen geschaffen hätten, hätten wir keine Lösung gefunden. 

8 große Klassen statt 10 kleine. 

Aber direkt an den Noten der Kolleg:innen zu rütteln, das war natürlich ein No Go. Jeder weiß das, der an einer Schule unterrichtet. „Meine Noten fasst mir keiner an.“ Die eigenen Noten sind irgendwie heilig. Also musste eine andere Lösung her. Die Lösung für uns war aus Traditionsgründen bei den Schüler:innen selbst zu suchen. Wir waren immerhin EXPO2000-Projekt geadelt. Schülerschule. Kapitel 1 auf https://www.aufeigenefaust.com/otto-kraz/otto-kraz-rueckblick/das-pädagogische-schweizermesser/

Wir hatten schon jahrelange Erfahrungen mit der Eigenständigkeit von Schüler:innen in außerunterrichtlichen Projekten und unser Spezialprojekt musste ja außerunterrichtlich sein. Flexi war gefragt. Der Chef gab grünes Licht, aber niemand gab unserem Vorhaben eigentlich eine echte Chance. 

Mit Flexi im Kopf hatten eine Kollegin und ich eine verrückte Idee: Wir luden alle 42 Versetzungsgefährdete zu einem Treffen ein. Doppelstunde während der normalen Unterrichtszeit. Unser Versprechen: Wir würden mit einem neuen Konzept versuchen, sie vor der Nichtversetzung „zu retten“. Unsere Grundidee stammte von den Weight Watchers. Wir nannten unser erstes Projekt deshalb auch Power Watchers. 

 

Schon der Beginn war großartig. Da gingen 40 junge Menschen aus 10 Klassen verstohlen und etwas eingeschüchtert in das Klassenzimmer - und kamen nach 2 Stunden deutlich selbstbewussten wieder hinaus. Allein schon deshalb, weil sie schlagartig mit der Last der möglichen Nichtversetzung nicht mehr alleine waren. Man kannte sich ja, aber wusste nicht, wer alles im selben Boot saß. So unsere Erklärung. 

 

Wir hatten einen Vortrag über Lernstrategien gehalten, hatten versprochen, dass wir uns am Ende kümmern, wenn trotz Power Watching einmal in der Woche in einer großen Pause keine Versetzung in Sicht wäre. Allerdings unter folgender Bedingung:

Es gab ein Wochenblatt für jeden, das ausgefüllt kurz vor dem Treffen am Sekretariat abgegeben werden musste. Es gab ein Feld, das wir Strecktagebuch nannten. Die Schüler:innen sollten darin ankreuzen, wie oft sie in jedem Fach die Hand gehoben hatten. Mitmachen, so unsere These, verbessert umgehend den Eindruck. Und damit am Ende die Note. Zweite Bedingung: Kein Fernsehen und keine Computerspiele für 10 Wochen - das sollte immer unterschrieben werden. Wir konnten es natürlich nicht kontrollieren, aber die Aussage war uns wichtig: „Lieber 10 Wochen auf‘s Zocken verzichten als ein ganzes Schuljahr wiederholen. Denn eines stellten wir sehr klar: Nachweislich bringt Sitzenbleiben keine besseren Abiturszeugnisse am Ende. Dann doch lieber ein Auslandsschuljahr als Ziel einbauen. Denn das bringt nachweislich bessere Endzeugnisse. 

 

Ansonsten waren auf unserem Wochenblatt noch ein paar Felder, die man wie in einem Lerntagebuch ausfüllen sollte. Als eigenes Feedback auf das eigene Lernen. Wir haben es in den 10 Wochen immer wieder angepasst. Unser stärkstes Feedbackinstrument war ein horizontaler Kreidestrich an der Tafel beim Power Watching Wochentreff. Die Schüler:innen sollten zu Beginn ein Kreuz machen, wie bei ihnen der aktuell gefühlte Stand war. Plus war oberhalb, minus unterhalb des Strichs. Schon beim ersten Treffen lagen alle Kreuze über dem Strich. Und sie stiegen immer weiter. Die Erzählungen der Schüler:innen in der Viertelstunde Wochentreff dokumentierten ebenfalls nur Erfolge. „Ich hätte nie gedacht, das Mitmachen so viel verändert.“ meinte beim ersten Treffen eine Schülerin sehr euphorisch. Und viele nickten. Ja es gab viele erfrischende Geschichten rund um unser kleines Experiment. 

Am Ende stand auch für uns ein kleines Wunder: Wir mussten bei keinem einzigen Kollegen anklopfen, um unser Ziel zu erreichen. Klammheimlich hatten sich beim Power Watching alle 42 Schüler:innen selbst über die Ziellinie gebracht. Und für uns war der Beweis erbracht, dass es möglich ist, Selbstwirksamkeitskräfte zu wecken. Wir haben das Konzept in abgespeckter Form jahrelang weiterbetrieben. Ohne wöchentliches Treffen, aber mit Feedbackheften und einem gemeinsamen Startertreffen. Es gab ja keine Stunden für solche Projekte … und Selbstaufopferung war noch nie unser Ding. Aber auch diese abgespeckte Form ohne enge Begleitung hat über Jahre die Sitzenbleiberquote halbiert, viele junge Menschen zufriedener gemacht und dem Land Baden-Württemberg viel Geld gespart. So ganz nebenbei ohne Einbeziehung des Kollegiums. Allein dieses Kennenlernen der anderen Versetzungsgefährdeten beim gemeinsamen Treff und der Austausch darüber wirkt offensichtlich Wunder.

 

Wen diese Konzepte näher interessieren, hier kann man viel darüber nachlesen:

 https://www.aufeigenefaust.com/brain/archiv-feedbackprojekte/

Ein größeres Schweizer Versetzungsprojekt habe ich hier hinterlegt:

 https://faust-digital.jimdofree.com/

 

Was das mit meiner eigenen damaligen De-Implementierung zu tun hat? Wenn man einmal angefangen hat, Schüler:innen mit ins Boot der Bildung zu holen, passieren wunderliche Dinge. Man verändert seine eigene Rolle. Man gibt mehr ab. Man verliert Druck. Man gewinnt einen anderen Blick auf die jungen Menschen und ihre Fähigkeiten. Und man kann viel Zeit einsparen, um trotzdem an faire Noten zu kommen. Nicht auf die zweite Kommastelle genau, aber genau genug, um im normalen Schulalltag nicht aufzufallen. Denn - ohne Witz - mein schlechtes Gewissen habe ich trotz vieler erfolgreicher Projekte (ohne Deputatsnachlass) nie ganz verloren. Heute könnte ich auf die Wissenschaft verweisen: Noten (bis auf die Abschlussnoten bei Numerus Clausus Fächern) besitzen keine Korrelation zum späteren Berufs- oder gar Lebenserfolg. Also darf man ruhig auch dort bei den Noten abspecken und auf die hohen Effektstärken in der Hattie Studie setzen. Zum Beispiel auf die kollektive Wirksamkeitserwartung. Höher steht nur das Wissen, wo man leistungsmäßig innerhalb seiner Peer Group steht. Alles Bereiche, die sich automatisch in Gang setzen, wenn man seine eigene Rolle verändert. Und dabei bitte de-implementiert. Niemals oben drauf setzen. „Es muss mir gut gehen, dann geht es meinen Schüker:innen gut.“ Ich kann es nur empfehlen. Es gibt ein ganz anderes Lebensgefühl im beruflichen Lebensraum Schule.

 

Wird fortgesetzt.