Kapitel 40
Soweit sovision
Aber nun konkret.
In Deutschland verlassen jedes Jahr zwischen 40.000 und 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. In 10 Jahren also eine halbe Million junge Menschen, die erstens auf dem komplexen Arbeitsmarkt fehlen und zweitens mit dem komplexen Leben nicht mithalten können werden.
2018 hatte die ZEIT bundesweit eine breit angelegte Umfrage gemacht: „: 5 Prozent Unterrichtsausfall + knapp 5 Prozent Vertretungsunterricht = nahe 10 Prozent schlechte Chancen für mein Kind. So viele Schulstunden finden im Schnitt nicht oder irregulär statt.“ https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2017-10/unterrichtsausfall-schule-bildung-studie-eltern
Die Überschrift des Artikels: Addition des Grauens. Und in einem Drittel der Vertretungsstunden wurde Fachunterricht gemacht.
Das ist 5 Jahre her und die Lehrerversorgung hat sich weiter verschlechtert, wie man zur Zeit fast täglich irgendwo lesen kann.
Deshalb: Sorry, das kann es nun wirklich nicht sein: Die Generation meiner Enkelkinder schulisch unbefriedigend versorgt … und das voraussichtlich die nächsten 10 Jahre … eine Schieflage mit Ansage … noch mehr Jugendliche ohne Schulabschluss … noch mehr Schüler:innen leistungsmäßig abgehängt … Eltern im Dauerstress, weil Schule immer unzuverlässiger sein wird … Lehrer:innen im Dauerstress, weil jetzt den Verantwortlichen nur noch einfällt, dass Kolleg:innen Deputats aufstocken sollen, Lehrer:innen länger arbeiten sollen und die Klassen größer werden müssen. Denn: Es gibt ja Schulpflicht und Lehrer:innen sind meist verbeamtet. Ja und dann der verzweifelte Versuch einzelner Bundesländer, Lehrer:innen abzuwerben … und die blauäugige Vorstellung, dass Quereinsteiger ohne pädagogische Grundausbildung mit etwas Fachwissen aus ihrem bisherigen Beruf schon auch unterrichten können. Mag manchmal sein, aber aus der Erfahrung heraus ist das leider die Ausnahme. Man frage bei Schulpraktiker:innen nach, sie werden es bestätigen. Das passt alles gut zur „Addition des Grauens.“
Was aber tun?
Paradigmenwechsel, Blickwinkeländerung, entwicklungsorientierte Sichtweise, Schüler:innen mit ins Boot, Lehrer:innen massiv entlasten, damit sie genug Zeit für einen radikalen Umbau ihrer Schule haben, ohne dabei das Handtuch zu werfen. Damit sie im Gegenteil wieder erfahren können, welch wundervoller Beruf Lehrer:in ist. Wenn man sich auf das erfolgreiche Lehrer:in-Sein konzentrieren kann und nicht nur noch Verwalter:in der „Addition des Grauens“ ist.
Nur dann werden auch wieder mehr Abiturient:innen den Lehrerberuf in ihre beruflichen Überlegungen mit einbeziehen. Und nur dann werden nicht mehr so viele Student:innen durch Praxisschock ihr Studium oder das Referendariat abbrechen.
Ganz konkret:
Je nach Schule, Schulgröße, Schulart und Bundesland wird der wirkungsvolle Umgang mit dem wachsenden Stundenausfall unterschiedlich ausfallen, aber eines muss für alle gleich sein: „Das große Schulpalaver“ … :-) Ist nur einmal ein Arbeitstitel für eine riesige Herausforderung: Eltern, Lehrende und Lernende müssen überzeugt werden, dass man aus der Addition des Grauens zusammen die erfolgreiche Zukunft entwickeln muss. Ohne nur darauf zu warten, dass die Bildungsbehörden, den Karren aus dem Dreck ziehen. Ich glaube, wenn nach dem großen Palaver eine komplette Schulgemeinde selbstbewusst von der Behörde fordert, statt der Addition des Grauens neue Konzepte entwickeln zu dürfen, dann wird man offene Türen einrennen. Denn die Bildungsbehörden befinden sich selbst in großer Not.
Das große Palaver ist allerdings wirklich eine riesige Herausforderung. Jedoch erfrischend lohnenswert. Wenn einmal eine Schule dieses große Palaver experimentell entwickelt hätte und man für andere Schulen daraus Schlüsse ziehen könnte, dann könnten Schulgemeinden (Lehrende, Lernende, Eltern) zu Fortbildner:innen werden.
Die Umsetzung:
Ich versuche es möglichst kurz. Als Mathematiklehrer.
Eine Aufgabe: Wenn an einer Schule mit 100 Lehrer:innen und 1000 Schüler:innen (meine alte Schule) 10% des Unterrichts ausfällt, wie viele Lehrer:innen müsste man im Old-School-Modus einfordern? - Antwort: Na klar, 10 Lehrer:innen fehlen.
Eine zweite Aufgabe: Wenn drei Schüler:innen mit Wissensschweif einen entwicklungsorientierte Lehrpersonenaufgabe übernehmen könnten, wie viele Schüler:innen müsste man mit „Nachhilfegehalt“ einstellen? - Antwort: 30
Eine dritte Aufgabe: Wenn man den 10% Unterrichtsausfall nicht nur auffüllen, sondern die Bildung der Zukunft entwickeln will und dafür jede Lehrperson 10% weniger Unterricht, dafür Zeit für Entwicklungsarbeit haben müsste, wie viele „lehrende“ Schüler:innen wären dafür notwendig. Antwort: 60.
Eine vierte Aufgabe: Wenn man für ein Konzept mit je 3 lehrenden Schüler:innen ein Elternteil als Coach on Demand beruhigend in der Rückhand hätte, wie viele Eltern müsste man davon überzeugen, Schuls entwicklungsorientiert mitzugestalten? - Antwort: 20.
Aufgabe 5: Wie viele lehrende Schüler:innen und wie viele begleitende MamaPapas benötigt man für dieses Konzept prozentual: 6% der Schüler:innen und 1% der MamaPapas.
Aufgabe 6: Ist das illusorisch? Antwort: Nein.
An dieser Stelle breche ich ab. Mir schwirren viele Ideen im Kopf herum, die ich beim großen Palaver in meiner fiktiven Schule auf den Tisch legen würde … aber starke entwicklungsorientierte Prozesse entstehen am Ende real vor Ort und nicht am Schreibtisch eines Pensionärs.
Deshalb mein entwicklungsorientierter Anschubser zum Schluss: Angenommen man würde z.B. eine Klassenstufe 7 mit vier Parallelklassen zu einer Stufenfirma zusammendenken … und ein:e Fachlehrer:in würde krank … aber die Stunde würde dann nicht wie üblich vertreten oder ausfallen: Weil man nach dem großen Palaver genügend lehrende Schüler:innen entwickelnd einbauen könnte - außerdem auch MamaPapas als helfende Stützen … welche Organisationsmöglichkeiten würden sich hierbei auftun, wenn man das übliche Klassensilodenken verlässt?
Und wie könnte man die Firma Klassenstufe 8 mit den Wissensschweifen einbeziehen, die ja schon ein Jahr gereift sind.
Ich überlasse Sie jetzt Ihrer eigenen Fantasie.
Und jetzt, Herr Kraz?
Ich wollte ursprünglich eigentlich 40 Kapitel mit jeweils einem Bild dazu schreiben, die in einem Magazin von 40 Seiten meine zentrale These untermauern sollen: Schüler:innen können auch problemlos Lehrer:in sein, wenn man einige von ihnen ernsthaft in die Unterrichtsorganisation mit einbezieht. Da ich meine Gedanken leider immer in oft viel zu langen Texten versenke, kann ich meinen bisherigen Plan eben nur mit zwei Magazinen realisieren. Entwicklungsorientiert gedacht ist es aber vollkommen problemlos, so stark von einem Plan abzuweichen. 😎
Im Gegenteil: Daraus ergibt sich für mich jetzt noch eine schöne Folgeidee. Wenn ich diese beiden Grundsatzmagazine zusammengebaut und hier veröffentlicht habe, werde ich für ein drittes Magazin nachforschen, wie manche Lehrer:innen schon heute auf Schüler:innenkompetenz setzen und so ihr Schullebensraum als solchen viel intensiver genießen können. Denn - und davon bin ich aus der eigenen 40jährigen Berufserfahrung heraus felsenfest überzeugt - wer es schafft, als einzelne Lehrperson auf Entwicklungsorientierung und damit auch auf zu Schüler:innen als Bildungspartner:innen setzen, dem geht es radikal besser an seinem täglichen Arbeitsplatz.
Und natürlich: Wer selbst gerne für das 3. Magazin seine eigene Praxis mit lehrenden Schüler:innen erzählen würde, der sei hiermit herzlich eingeladen und aufgefordert, mir davon zu schreiben. Es lebe die Zukunft der Bildung.
Heinz Bayer alias Otto Kraz …otto.kraz@aufeigenefaust.com oder heinz.bayer@hfab.ch