Achtung Schere

Au Backe.

„… Was ihrer Tochter bevorsteht, ist kein Sonderfall in Sachsen-Anhalt. Der Plan, im kommenden Schuljahr eine Vier-Tage-Woche möglich zu machen, kommt von ganz oben. In einem Papier, für das Bildungsministerium und Landesschulamt verantwortlich zeichnen, wird das »4 plus 1«-Modell als Reformkonzept gehandelt. Es sollten »Freiräume in der konzeptionellen Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung« geschaffen werden, heißt es in dem Dokument, das dem SPIEGEL vorliegt…. Spiegel online Juli 22

 

Im Ernst?

Corona hat es doch gezeigt: Die Idee ist eigentlich aus Sicht eines Pädagogen total super. Ein Tag selbstständiges Arbeiten, 4 Tage Schule. Manche Schulen hatten im ersten Lockdown solche Konzepte gestrickt. Aber leider: Das Konzept ist eben nur was für die Schulstarken,  nicht für die Schulschwachen. Obwohl die Schulschwachen genau solch ein Konzept für ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstwertgefühl wunderbar nutzen könnten … könnten sie es nutzen. Dann würden sie viel leichter zu Schulstarken als in der Fünftagewochenschule. Fazit: Die normale Schule ist mit der Idee überfordert, weil ihr Handlungs-Rahmen leider zu eng ist.

 

Zwischenreingerufen

Ich verwende die Begriffe plakativ und sollte es erklären. Schulstark / Schulschwach. Die Begriffe beziehen sich wie üblich auf die Noten. Nun weiß man aus vielen Studien, dass Berufserfolg und Schul-Notenerfolg ohne Zusammenhang sind. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Studie, die einen Zusammenhang zwischen den jährlichen Schulnoten und dem späteren beruflichen Erfolg nachweisen könnte. Aber es gibt viele Studien, die den Zusammenhang zwischen Eigenständigkeit, Eigenengagement, Reflexionsfähigkeit und Selbstbewusstsein mit dem späteren beruflichen Erfolg herstellen. Das Verrückte: Man benötigt für diese Erkenntnis gar keine Studien. Man muss dieser Frage nur einmal im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis nachgehen. Dann hat man seine eigene Studie, auf die man sich verlassen kann.

 

Riesenschildkröte?

Die Bildungssystem ist schon irgendwie etwas Großartiges. Sie hat etwas von einer Riesenschildkröte, die einen sehr weise und lebensklug anschaut und man sieht es ihr an: Sie meint es ganz ehrlich. Und man übernimmt ihre Meinung gerne und irgendwie intuitiv. „Never change a running system" meint sie und setzt auf das Althergebrachte. Weil ihr das Neue doch sehr suspekt und zu unsicher ist, denn es entwickelt sich ja so richtig entwicklungsorientiert weiter. Auf das Alte kann man sich verlassen. Zumindest die auf der oberen Seite der Schere. Riesenschildkröte, es tut mir leid. Aber du bis leider echt in die Jahre gekommen und siehst wohl auch viel schlechter.

 

Und jetzt?

Na ja, wenn Sie mich schon so fragen. Ich würde sagen: Entwicklungsorientiert denken. Das „4 plus 1“ - Modell ist eine starke Idee, die in dem normalen Schulsystem aber nicht für alle wirksam wird. Auch Corona hat die Schere zwischen den Schulstarken und -schwachen vergrößert. Einfach übel für all die Berufsstarken, die den (absurden aber realen) Makel des Schulschwachen oft lebenslang mit sich herumtragen. Tragisch für die Schulschwachen, die genau wegen der Schere nicht in den normalen selbstbewussten Berufsstarken überwechseln können, weil ihr vergeigter Schul-Abschluss da einen Riegel vorgeschoben hat. Obwohl die Schulnoten eigentlich nix aussagen … wir hatten das schon.

Also entwicklungsorientiert denken.

 

Ja wie?

Vielleicht ja mit Konzepten aus dem Buch über „Entwicklungsorientierung als Paradigmenwechsel“. Denn mal ganz unter uns: Wenn die Lehrkräfte fehlen und man deshalb eine Viertageschulwoche einführen will, dann bedarf es eines wirklichen Paradigmenwechsels. Sonst geht das aber sowas von schief. 

 

Geht‘s vielleicht genauer?

Nö, das Problem ist leider zu groß, als dass man hier schnelle Antworten von der Hochschule für agile Bildung geben könnte. Aber mir fällt spontan ein alter Blogbeitrag ein, in dem ich mal wieder wie schon mal, an das Kultusministerium BW einen offenen Brief geschrieben hatte.

 

Schüler:innen?

Ja klar. Und natürlich auch Pensionär:innen mit sprechenden Fachbüchern. Und pädagogisch entwicklungsorientiert tickende Schulexterne mit Einsatzlust. Alle an einen runden Tisch. Und dann entwickeln. Vor Ort. Mit allen Fähigkeiten, die man mit allseitiger Augenhöhe auf den Tisch legen kann. Sich an der Entwicklung orientieren, heißt es auch hier. Nicht nach einem Plan vorgehen. Und mir persönlich fällt eben wie schon immer ein riesiger ungehobener Schatz ein: Die Fähigkeiten von Schüler:innen. Und inzwischen fallen mir als Pensionär durch meine sprechenden Physikmagazine auch die vielen Pensionär:innen ein. Aber bitte nicht vor der Klasse, sondern als Background „on demand“. Für die Schülermentor:innen.

 

 

Noch was?

Nö, im Moment noch nicht. Ich wollte es zumindest nur hier schnell mal gesagt haben, was mir so durch den Kopf geht. Ja und die Bildungsverwalter:innen tun mir natürlich irgendwie leid. Sie stecken ja selbst in einem System, das Entwicklungsorientierung nicht zulassen kann. Obwohl sie natürlich sehen - genau sie kennen ja die Zahlen der Lehrer:innenversorgung am besten und schlafen deshalb vielleicht sogar schlecht - dass ein Paradigmenwechsel an den Schulen dringend angesagt ist. Aber mit gefesselten Händen lassen sich Paradigmen einfach äußert schwer wechseln.

Deshalb blogge ich ja auch so gerne für das Forum agile Verwaltung ... in der großen Hoffnung, dass wir in die eine oder andere Bildungsverwaltung ein klein wenig Entwicklungsorientierungsluft bringen können. Denn die ist ansteckend. Und tut so gut.

 

Irgendwann, davon bin ich überzeugt, werden einmal fair bezahlte Schüler-Mentor:innen und Pensionäre on Demand zum Schulalltag einer Schule des 21. Jahrhunderts gehören. Und entwicklungsorientierte Bildungsverwaltungen, die dann über unsere kleine Hochschule in Zürich nicht mehr den Kopf schütteln.