Aus aktuellem Anlass eines Beitrags auf unserem Blog des Forums agile Verwaltung haben wir hier die Geschichte von Weit im Winkl etwas überarbeitet hier noch einmal in den Blog gestellt.
Übrigens: Alle Bilder sind immer cc by ottokraz ... also frei verwendbar.
Die Struktur und die Ideen der teilautonomen Laborschule in Weit im Winkl ... eine schon beinah 10 Jahre alte Geschichte von einigen pädagogisch zukunftsspinnenden Menschen, die sich immer wieder neu anpasst.
Wir verstehen den Sinn einer solchen Geschichte als Möglichkeit, mit fiktiven Vorschlägen Diskussionsmaterial für zeitgemäße Bildung zu liefern. Keine Blaupause, aber einen Ideenstrauß von Möglichkeiten ... und zwar - und das ist uns wichtig ... innerhalb des bestehenden Schulsystems. Wir bringen es hier mal wieder in den Fokus, weil es unserer Meinung nach ein guter Zeitpunkt wäre, von Weit im Winkl ein paar zentrale Ideen in die reale Nach-Coronazeit zu übertragen.
Wir befinden uns an einer fiktiven Schule, bei der die Idee „Lass einfach mal los, dann hast du zwei Hände frei“ lustvoll durchgespielt werden darf. Für Fortbildner/innen, für Berater/innen, für Lehrende und Lernende, für Eltern und nicht zuletzt für Menschen aus Bildungsbehörden, die aktuell nach neuen Wegen suchen.
Eingebettet sind dieser Ideenstrauß in eine kleine Geschichte, mit der auch diese Webseiten begannen.
Der Text ist als Puzzle zu verstehen, der sich im Laufe der letzten Jahre immer wieder etwas verändert und erweitert hat. Deshalb stilistisch vielleicht ein wenig holprig. Man möge als Leser/in ein wenig Nachsicht üben.
Weit im Winkl in Kurzform
- Klassen nach Altersstufen eingeteilt passen überhaupt nicht mehr zum heutigen Wissensstand über starke Bildung.
- Gute Bildung ist schlicht gute Zusammenarbeit .... zwischen Lernenden, Lehrenden, Eltern und dem kompletten Lebensumfeld.
- Das Fächerübergreifende kann man dann auch völlig neu definieren und die einzelnen Schulfächer werden nicht mehr als einzige Möglichkeit des Lernens benötigt.
- Schüler/innen werden auch als Lehrpersonen verstanden und in einem zukunftsorientierten Bildungssystem als extrem starke Komponente eingebaut werden.
- Tipp: Im Kopf nach Weit im Winkl reisen und nach der Rückkehr mutig genug sein, um in klitzekleinen Schritten, aber kontinuierlich, loszulassen. Dann hat man zwei Hände frei. Und das tut richtig gut.
Ein Motto der Laborschule in den alten Gemäuern:
"Klar machst du das Abitur ... wenn du das dann am Ende willst ... aber auf welchem Weg, das ist komplett individuell. Das heißt, wie, mit welchen Schwerpunkten, Projekten, was du wann abholst und auch, was du mit einbringst und selbst zu bieten hast, das ist wirklich in erster Linie deine Sache." Um diese Verantwortung für den Lernprozess an junge Menschen abgeben zu können, bedarf es zuvor einer kompletten Blickwinkeländerung auf die Institution Schule und einen mutigen Umbau ... innerhalb der alten Gemäuer ... sonst bleibt starke zeitgemäße Bildung nur wenigen privaten Schulen vorbehalten. Zukunftsideen sollten sich an der aktuellen Situation orientieren.
"Die Strukturen müssen flexibel sein - die Welt dreht sich immer schneller - also erfinden wir uns immer wieder neu."
Die inhaltliche Grundlage:
Das Baden-Württembergisches Schulsystem und dessen Bildungsplan.
Abschluss: Das baden-württembergische Abitur, die baden-württembergische Mittlere Reife bzw der baden-württembergische Hauptschulabschluss. Auch ein berufliches Gymnasium ist in Weit im Winkl integriert.
Der Weit-im-Winkl-Trick:
Teilautonom durch klammheimliche Abkopplung vom Einfluss der Kultusministeriums. Komplett neue Strukturen trotz Bildungsplanvorgabe. Also auch ganz normales baden-württembergisches Abitur, nur eine vollkommen andere Hinführung zu diesem Ziel. Bezahlung des Kollegiums: Wie vor der Abkopplung. Die Story: Das Landesamt für Besoldung und Versorgung hat nichts von der Abkopplung bemerkt. 15 Jahre bleibt das Kollegium in genau derselben Besetzung, bis das Ganze auffliegt. Aber da ist dann für das Kultusministerium nichts mehr zu ändern, weil der Minister sonst das Gesicht verlieren würde. Die Erfolge sind einfach zu überzeugend. Weit im Winkl wird 2028 offiziell zum ersten Laborgymnasium Baden-Württembergs. (Siehe Story)
Spielen Sie doch einfach einmal im Kopf mit. Es tut nicht weh und öffnet neue Denkfelder. Und bitte: Versetzen Sie sich ab und zu einmal zurück in Ihre eigene Schulzeit oder sehen Sie Weit im Winkl durch die Augen Ihrer Kinder. So eine Gedankenreise hilft auch Eltern und ihren Kindern, ohne dass sich Schule geändert hat. Schon wer es schafft, die viel zu große Bedeutung von Noten vom Sockel zu stoßen, wird am Ende bessere Noten haben und Schule viel besser als Chance begreifen können
Die Lehrerversorgung in Zeiten der klammen Kassen.
Da Weit im Winkl teilautonom ist, also sich selbst um Versorgung kümmern muss, dabei aber niemandem Rechenschaft schuldig ist, können vollkommen neue Formen des Unterrichtens gefunden werden. Und auch ganz andere Einstellungen vorgenommen werden. Weit im Winkl macht sich auch frei vom "Schulen verdienen kein eigenes Geld." Im Gegenteil: Das Laborgymnasium wird zum Unternehmen, das sich in weiten Teilen selbst finanziert. Allerdings bleibt das Landesamt für Besoldung und Versorgung natürlich für die Gehälter mit im Boot. Zu verschenken hat man nichts:-) Aber mit dieser "Mischkalkulation" gibt es zusammen mit den neuen Unterrichtsaufteilung überhaupt keinen Grund mehr für Unterrichtsausfall irgendwelcher Art. "Unterrichtsausfall?" meinte einmal ein Abiturient mit Durchschnittsnote 1,4 in einem Zeitungsinterview. Kann ich mich ehrlich gesagt nicht erinnern, so etwas einmal gehabt zu haben. Oder doch. Im Sommer vor 3 Jahren. Als die Temperaturen so unerträglich wurden. Da gab es dann die Alternativschule im Schwimmbad. Aber Unterrichtsausfall, wie Sie das wahrscheinlich meinen, das gibt es im Laborgymnasium überhaupt nicht."
Das Schulgeld selbst verdienen
Klasse 9, genannt Obertertia, zum Beispiel setzt komplett auf: "Hier verdienst du dein Schulgeld durch echte Arbeit, spürst, was in dir steckt und schnupperst deine Zukunft." Die Ausbildung in der 9. Klasse, wieder wie früher Obertertia genannt, findet komplett außerhalb der Schule statt. Die Betriebe rund um Weit im Winkl sind begeistert. Durch die wirtschaftliche und steuerlich geschickte Ankopplung an Baselland bemerkt niemand im Wirtschaftsministerium in Stuttgart die boomende Wirtschaftskraft einer zuvor vernachlässigten wirtschaftlich zurückgebliebenen Grenzregion mit hohen Abwanderungstendenzen. Zwischen 2013 und 2028 wächst sie Bevölkerungszahl sogar um 13 %. Die Zahl der Firmenneugründungen und Start-Ups beläuft sich in diesem Zeitraum auf 128. Niemand wundert sich in Stuttgart, dass sich Weit im Winkl im Jahre 2015 beworben hat, ein kleines Dorf für syrische Flüchtlinge einzurichten und dass es offensichtlich keine Widerstände bei der Landbevölkerung gibt. Man hat damals ganz andere Probleme. Aber Integration ist in Weit im Winkl keine Frage, weil durch den Einfluss des Laborgymnasiums ein Umdenken stattgefunden hat. Speziell das Projekt Obertertia- Flüchtlingsbetreuung- Politikunterricht ist exemplarisch für das Denken in Weit im Winkl und vermittelt den Jugendlichen einen tiefen Einblick in die Probleme dieses Planeten und macht sie gleichzeitig weltoffen. Politischer Sprachunterricht der besonderen Art. Die Touristen genießen diese Weltoffenheit. Der neue Hotelkomplex einer Schweizer Betreiberfirma war schon ein Jahr nach Eröffnung dauerhaft ausgebucht. Das kompetente, dynamische und freundliche Hauspersonal hat seine Außenwirkung nicht verfehlt. Das Projekt-Obertertia-Wirtschaftskurs-Touristik lässt grüßen.
Die alten pädagogischen Strukturen
Einige spezielle Grundlagen haben die Pädagogen des Laborgymnasiums ein paar Kilometer nördlich abgeguckt. Best practice in Staufen in Breisgau. Faust-Gymnasium. (Für Uneingeweihte: Weit im Winkl wurde als Idee entworfen, als eine Gruppe von Pädagog*innen des Faust-Gymnasiums 2013 mit Online-Kursen für khre eigenen Schüker/innen experimentierten und sich dafür die Geschichte einer eigenen Laborschule ausdachten.)
"Gebt Jugendlichen maximal viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln, sich einzusetzen, Selbstbewusstsein zu tanken, selbst aktiv zu werden, sich auszuprobieren, die eigenen Fähigkeiten zu testen ..... dann habt ihr viel für die Zukunft getan" - das war dort ein Motto gewesen, mit dem die Faustler im Jahre 2000 offizielles Weltausstellungsprojekt wurden. "Schülerschule" war der EXPO-Projektname. Eine Jury aus Managern und Politikern waren sich einig, dass sie das selbst gerne in ihrer eigenen Schulzeit so gehabt hätten. Auf Augenhöhe ernst genommen zu werden, wenn man sich aktiv für die Schule einsetzte. Das hatten die Pädagogen aus Weit im Winkl bei einer Fortbildung vor Ort mitgenommen und die Grundidee hatte sie nicht mehr losgelassen. Denn sie selbst konnten als teilautonome Schule diese Grundlagen jetzt viel stärker in den Fokus rücken. Die Grundidee, Schüler/innen als Menschen ernst zu nehmen, fällt in Weit im Winkl auf fruchtbaren Boden. In Staufen konnte man sehen, was man durch diese einfach Blickwinkelveränderung gewann: Kompetentes Personal der Extraklasse. Immer wieder neu. In Staufen gab es schon 2008 eine Nachmittagsschule, den Flügelverleih, in der Schüler/innen als Coach arbeiteten. Immer wieder hochmotiviert. Und in Weit im Winkl waren nach dem gleichen Prinzip so manche Oberstufenschüler/innen wichtigere Lehrpersonen als die Fachlehrer. Aber dazu später im Einzelnen.
Die grundsätzliche Erweiterung der pädagogischen Idee von Weit im Winkl basiert auf ein paar wesentlichen Grundlagen.
1. Jeder Mensch kann selbstbewusst seinen adäquaten Platz in dieser hochentwickelten Gesellschaft finden, wenn er die grundlegenden Möglichkeiten dazu bekommt. Kinder und Jugendliche sind ganz normale Menschen.
2. Menschen entwickeln sich unterschiedlich schnell. Schnellere Entwicklung ist allerdings kein Qualitätsmerkmal. Dem muss Schule Rechnung tragen. Die Einrichtung von altersgleichen Klassen benachteiligt die sich langsamer Entwickelnden, die deshalb als „schlechte Schüler*innen“ Schule durchlaufen, aber auch die sich schneller Entwickelnden, die künstlich gebremst werden müssen. Deshalb muss sich eine moderne Schule, die möglichst optimal das Potenzial ihrer Schüler/innen ausschöpfen und fördern soll, nach Leistungsstand und nicht nach Altersgruppierung formieren. Statt Klassen sind eher Projektgruppen einzurichten, soweit dies möglich ist.
3. Die Pubertät wird nicht mehr als störende Entwicklungszeit wahrgenommen, sondern als Entwicklungs-Chance. Deshalb wird die normale Schule in der Obertertia (9. Klasse) durch ein spezielles Berufsjahr unterbrochen. Die Erfahrung in Weit im Winkl zeigt, wie schnell der fehlende Input in einigen Fächern in der 10. Klasse wieder aufgeholt wird.
4. Die Mittlere Reife und das Abitur trägt in Weit im Winkl diesen Grundlagen Rechnung. Ein junger Mensch kann problemlos in der 11. Klasse Englisch und Geographie-Abitur machen, in der 12. Klasse dann das zentrale Deutsch- Abitur und Prüfungen in ein paar anderen Fächern ablegen und dann in der 13. Klasse das Abitur in Mathe nachholen, während man z.B. schon anfängt, Jura zu studieren. Weit-im-Winkl-Abiturienten haben somit schon einen wesentlichen Lebensvorteil: Niemand träumt später Alpträume vom Mathe-Abitur. :-)
5. Die Verquickung von Schule und Gesellschaft findet so oft wie möglich statt. So wie Schüler/innen in der Obertertia außerhalb des Schule ernsthaft in allen möglichen Betrieben und Einrichtungen arbeiten und ihr Schulgeld plus Taschengeld zu verdienen, können sich Erwachsene jederzeit für bestimmte Kurse in der Schule anmelden. Das wird zwar nicht so häufig gemacht, ist aber als Signal sehr wichtig. "Leute, wenn ihr mal wieder eine Packung Kurvendiskussion braucht, kommt ans Laborgymnasium."
6. Es gibt am Ende die zentralen Termine zum Abitur, aber sonst ist Prüfung in Weit im Winkl komplett anders angelegt. Alle Fachinhalte sind in Kapitel aufgeteilt. Bis zur Obertertia muss ein Prozentsatz von 90% der Kapitel-Prüfungen abgelegt sein, damit man die Schule aktiv verlassen darf. Also sich in der Obertertia-Berufswelt von Weit im Winkl zu positionieren. Das ist für die meisten Schüler/innen tatsächlich oberstes persönliches Ziel. Denn bei all den neuen Strukturen ist auch im Laborgymnasium Vokabellernen kein Honigschlecken und Mathematik auch nicht einfacher als an anderen Schulen. Wer das Pensum an Prüfungen, deren Zeitpunkt man immer selbst festlegen kann, bis zur Obertertia nicht geschafft hat, besucht in dieser Klassenstufe die Paukschule. Klassisch, quadratisch, gut. Keinerlei Eigenständigkeiten, reines Büffeln, Frontalunterricht, normale Klassenarbeiten, Hausaufgaben ... na ja, eben die übliche Schule. Mit sehr enger und strenger Führung. Schon das Wissen über die Obertertia-Alternativen sind für die meisten Schüler/innen ein komplett natürlicher Ansporn.
7. Prüfungen und Klassenarbeiten und Tests werden nie beim eigenen Lehrer abgelegt bzw geschrieben. Die Trennung von Lehren und Bewerten ist Prinzip in Weit im Winkl. Jede/r Schüler/in besitzt ein Prüfungsportfolio und weiß zu jedem Zeitpunkt den aktuellen Entwicklungsstand. Jeder Schüler hat auch einen persönlichen Betreuungslehrer, mit dem er einmal in der Woche eine kurze Portfoliobesprechung macht. Einmal im Halbjahr ist diese Besprechung mindestens 30 Minuten lang und grundsätzlich und wird von mindestens 3 Fachlehrern des Schülers geführt. Sitzenbleiben im üblichen Sinne gibt es nicht, es gibt nur die Ferienschule, die ein Schüler besuchen muss, wenn er zu sehr hinterherhinkt.
8. Nach dem Berufsjahr gibt es drei Möglichkeiten an der Laborschule: Da man Ende der Obertertia den Hauptschulabschluss hat, kann man eine Lehre anfangen. Oder man geht noch ein Intensiv-Jahr auf die Schule und macht die normale mittlere Reife. Oder man wählt das Ziel Abitur und drückt noch einmal 3 Jahre die Schulbank.
Die erweiterten neuen Strukturen
Im Laborgymnasium muss jede/r Schüler/in ab der 7. Klasse mindestens in einem eigenen selbstaktiven Projekt arbeiten. Klasse 5 und 6 bereiten auf diese Projektarbeit vor. Klasse 7 und 8 also Schule mit zusätzlichem eigenem Projekt. Klasse 9 das verdienende Projekt außerhalb der Schule. Klasse 10 Schule kompakt mit Mittlerer Reife oder direkt Lehre nach dem Projekt in der Obertertia. Klasse 11 bis 12 oder 13 - je nach Leistungsstand: zwei-oder dreijährige Oberstufe bis zum Abitur. Inklusive der Möglichkeit, das Abitur in Einzelfächern jeweils schon ein Jahr vorher oder aber auch ein, zwei Jahre später zu machen. Unterrichtsmäßig ist das alles deshalb organisierbar, weil Weit im Winkl auf Selbstorganisierten Unterricht setzt. Da haben die Pädagogen in der Anfangszeit schon viel von den entstehenden Ansätzen agiler Bildung abgespickt und mit den eigenen Möglichkeiten der individuellen Betreuung ein eigenes Stück draus gefertigt. Früh wurden die Möglichkeiten geschaffen, über die für alle Bürger frei und kostenlos verfügbare Weit-im-Winkl-Plattform Online-Lernen, Online-Meetings, Videokonferenzen und viele andere Vorteile des Einsatzes moderner digitaler Möglichkeiten zu nutzen. Entwickelt von Informatik-Studenten der Uni Basel, finanziert aus dem Stadtsäckel, hatte man schnell erkannt, wie viel Potenzial für indivualisiertes Lernen in der Digitalisierung steckt. Auch Schüler/innen selbst sind immer gleichzeitig auch Lehrpersonal. Lehren und Lernen ist ein Grundprinzip für jeden. Notenmäßig abgerechnet wird nach der letzten Abitursprüfung. Ja klar: Das Laborgymnasium musste hier jahrelang ein wenig mit den Formularen schummeln. Erst 2028 flog die Sache auf, aber als anerkanntes Laborgymnasium durfte man so weitermachen.
Klassenstufen
Eigentlich gibt es in Weit im Winkl keine wirklichen Klassenstufen mehr.
Die zentralen Aussagen der Hattie-Studie hatten sie nach wochenlangen Diskussionen diese eigentlich noch nie in Frage gestellte Einteilung neu definieren lassen. Schon die drei höchsten Effektstärken sprachen ihre eigene Sprache:
Zusammenarbeit der Lehrpersonen ... 1,57 ... für die „normale“ Schule. Das vollkommen Neue aber in Weit im Winkl: Da auch aktive Schüler/innen als Lehrpersonen wahrgenommen werden, verstärkt sich dieser Effekt.
Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus 1,33.
Den Leistungsstand der Lernenden einschätzen können 1,29
Aber auch viele anderen Faktoren effektiven Lernens wie Feedback- und Fehlerkultur, Teamarbeit und Eigenständigkeit, individuelle Aufgabenstellung und Schüler/innen als Experten tauchen in der Studie mit hohen Effektstärken über 1 auf.
Aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Hattie-Studie wurde in der Laborschule ein ganzheitliches Konzept angeleitet. Die Kombination aus einzelnen Fächern zur Vermittlung von Grundlagen in Kombination mit immer wieder neu aufgestellten Zusammenarbeitsprojekten zwischen verschiedenen Disziplinen lässt Lernen als Gesamtprozess entstehen ... mit einem klaren Ziel (Die Laborschule darf ja den Bildungsbehörden nicht auffallen) Abitur, Mittlere Reife, Werkrealschulabschluss. Und zwar möglichst gut. Logisch.
Die Klassenstufen in Weit im Winkl sind trotzdem grobe Anhaltspunkte, in welchem Umfeld man gerade lernt. Es geht aber in erster Linie immer darum, dass klar ist, wohin die Bildungsreise gehen soll. Und zwar für Lehrpersonen wie auch für Lernenden. Dass man von beiden Seiten aus (Und auch von Seiten der Eltern aus) akzeptieren kann, dass Menschen sich intellektuell unterschiedlich schnell entwickeln und Schule darauf einzugehen hat. Weil es nicht darum gehen kann, in altersfestgelegten Klassenstufen durch immer zum selben Zeitpunkt gemeinsam geschriebenen Klassenarbeiten niemals zu einem wirklich befriedigenden optimierten Lernen vordringen kann.
Noch einmal sei betont: Schule als Ort der Zusammenarbeit von Lehrenden und Lernenden zu verstehen und auch schon junge Menschen als Lehrende mit ins Boot zu holen, ermöglicht einen völlig anderen Zugang zu Lernprozessen und ein neuartiges positives Schulgefühl von zeitgemäßer Bildung.
Bildungspolitische Aussage
In Weit im Winkl wird mit der Meinung aufgeräumt, dass der gymnasiale Weg zum Abitur der erfolgreichere Weg zum eigenen selbstbestimmten Leben ist. Es gibt viele Wege zum Abitur, es gibt auch ein Studium ohne Abitur und Abitur&Studium an sich sind keine entscheidenden Grundlagen für ein erfolgreiches Leben. Denn Erfolg definiert in Weit im Winkl jeder ganz persönlich. Es geht nicht nur um gute Noten, sondern um ein gutes Leben. Und an der Schule selbst geht es um die Entwicklung seiner eigenen Fähigkeiten - natürlich neben der Erlernen von fachlichen Grundlagen. Aber eines sei hier erwähnt ... man nimmt in Weit im Winkl das Ziel des offiziellen schulischen Abschlusses für Baden-Württemberg in den klaren Fokus - aber lässt den kleinschrittigen Bildungsplan nur als groben Rahmen zu ... sonst würde das ineinandergreifende Prinzip von Grundlagenlernen, Projektlernen, außerschulisches Lernen und Lernende-für-Lernende-Unterrichtskonzepten etc. nicht funktionieren. Größtmögliche Gestaltungsfreiheit mit klarem Abschlussziel ... das ist ein Motto.
Lehrerversorgung
Durch die Abkopplung von Stuttgart und die finanzielle aktive Eigenständigkeit konnte man schon immer gut planen. Langfristig. Man konnte neben selbstorganisiertem Lernen große Einheiten wie Vorlesungen einführen. Klar hat Weit im Winkl drei große Vorlesungsräume, in denen große Gruppen zentral unterrichtet werden können. Und es gibt viele kleine Räume, in denen kleine Gruppen arbeiten können. Die Schularchitektur des Laborgymnasiums ist natürlich den pädagogischen Gegebenheiten angepasst. Der Ausbau wurde von der Gemeinde als Schulträger getragen. Waren die Gemeinde-Oberen doch ihrer Laborschule so dankbar für die vielen positiven Strukturen, die sie gebracht hatte. Klar. So frei in der Gestaltung nach rein pädagogischen Vorstellungen war vorher niemand. Weit im Winkl ist pädagogisches Zauberland. Und da die Versorgungsgelder aus Stuttgart trotzdem flossen und man nur mit diesem Lehrerdeputats-Status-Quo weiterarbeiten musste, war die Sache für die Laborschule unter Dach und Fach. Sie planten den Unterricht mit dem vorhandenen Personal einfach so, dass ein Unterrichts-Puffer von 15% existierte.
Das reichte locker für Krankheitsvertretungen und andere Vertretungen. Außerdem hatte man die Möglichkeiten von digitaler Betreuung kompletter Klassen auf der freien Plattform von Weit im Winkl schon früh erkannt. Damit konnten auch Lehrer/innen von zu Hause aus wirkungsvoll unterrichten, wenn sie das wollten. Digitales Zusammenarbeiten in überschaubaren Gruppenräumen bildete die analoge Wirklichkeit an der Schule gut ab. Außerdem konnte man so Fachleute von außerhalb schnell mal ins Online-Klassenzimmer holen. Und auch die berühmte Ferienschule von Weit im Winkl zum Aufholen bei Bedarf funktionierte meist online. Also auch am Urlaubsort nach dem Baden im Meer.
Der Start in die Laborschule
2023, also nach 10 Jahren, war es keine Frage mehr. Das System war komplett durchgewachsen, Kindergarten und Grundschule in Weit im Winkl war komplett auf die Laborschule ausgerichtet. Die Grenzen waren überall fließend. Die Pädagogik war gemeinsam weiterentwickelt worden. Auch die Grundschule hatte zwei Jahre nach der erfolgreichen Loslösung des Laborgymnasiums von Stuttgart ihre Drähte gekappt, war auch teilautonom geworden. Und auch bei diesem Vorgang bemerkte das Kultusministerium nichts. Nur ein kleines Rauschen im großen Schulnetz. Nicht mehr. Die beiden Kindergärten hatten es einfach. Einer war von der Gemeinde, einer kirchlich. Und da Pfarrer und Bürgermeister im Schulrat saßen, das hatte man von der Schweiz als positives Beispiel abgekupfert, hielten alle dicht. Die schwierigste Anfangsaufgabe war es, die Eltern davon zu überzeugen, dass ihre Kinder keinen Schaden nehmen würden. Aber DVAs sei Dank, also den zweijährlichen Vergleichsarbeiten, die in ganz Baden-Württemberg geschrieben wurden, war schnell klar : Die Laborschule toppte alle Prognosen.
Trotzdem: In den ersten 6 Jahre hatte man immer parallel zum komplett neuen Stil des Lernens eine kleine "historische" Klasse gebildet. Zuerst in der 5. bis 7. Klasse, dann genügte es aber schon nach zwei Jahren, die 5. Klasse mit einer Old-Style-Gruppe zu versehen. Das war der ganz normale Wahnsinn von Schule, wie sie jeder kennt. Mit dem Gefühl, Schule wäre doof und unnütz und die Lehrer ungerecht. Weil hier alles beim Alten blieb. Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Noten, alles. Nach 6 Jahren waren es wirklich nur noch Einzelschüler, die man sowieso besonders betreuen musste. Quasi eine erweiterte Inklusion. Und Inklusionsgelder für Betreuungsdeputate gab es ja aus Stuttgart. Man war ja dafür immerhin nur halbautonom. Nach zehn Jahren sprach niemand mehr von einzelnen Problemen. Sie gehörten dazu und waren kein Problem mehr.
Der Weg in die schulische Neuzeit
....folgte meist Ideen aus dem agilen Methodenkoffer. Agilität war in der Entwicklungsphase das große Umdenken. Agile Bildung statt Bildungsplan. Weit-im-Winkl-Scrum statt Paukschule. Die Organisation des eigenen Lernens stand immer im Vordergrund. "Wenn man so eine komplexe Angelegenheit wie das individuelle Lernen gut hinbekommen will, dann kann man nicht mehr in größeren Zeitrahmen planen. Dann muss man in überschaubaren Gruppenstrukturen arbeiten. Und Schüler&innen als ihre eigenen Bildungsverantwortlichen ernst nehmen," war eine wichtige Aussage des Direktors. Seine Argumentation: "Wenn im frühen Mittelalter Frauen mit 12 und Männer mit 14 Jahren heiraten konnten, dann werden doch wohl im 21. Jahrhundert Zwölfjährige ihre eigene Lernlandschaft mit professioneller Unterstützung und einem agilen Methodenkoffer an der Hand in Kleinteams organisieren können."
Zwischenrein mal ein kleines Zwischenrein-Fazit
Die Welt hat sich in den letzten 150 Jahren sehr verändert. In Staufen wurde 1865 zum ersten Mal Latein unterrichtet. Erweiterte Volksschule. Der Beginn der "Höheren Bildung". Latein war das Maß aller Dinge. Die Welt wurde von wenigen Mächtigen geführt ... die Menschen waren in engen Schranken "gefangen". Nach heutigem Empfinden waren alle hinter dicken Gefängnismauern und Gitterstäben eingesperrt. Die Schule erzog ihre Schüler zum Gehorsam, zur Disziplin, zum Funktionieren für die damalige Welt. Systemkritik, reflektiertes Denken, selbstständiges Handeln, Fähigkeiten fördern, Weltoffenheit, Selbstbestimmung ... Keine Spur davon. Noch heute gibt es viel zu viele Relikte aus vergangenen Tagen. Dabei ist diese heutige Welt viel zu komplex geworden, als dass man sich dies eigentlich leisten kann. Wollen wir die Welt retten, müssen wir die Schule umkrempeln. Radikal. Aber die ganze Schulmaschinerie - von der Gesellschaft über Kulturbehörde bis hinein in die Schulen ist wie ein riesiger Dampfer, auf dem zwar viele wundervolle pädagogische Ideen schon entworfen wurden, aber die Trägheit des riesengroßen historisch gewachsenen Schiffskörpers lässt einen kompletten Kurswechsel nicht zu. Außer man setzt sich mit einem kleinen Beiboot ab und beweist, dass man Schule auch komplett anders denken kann und dabei erfolgreich ist. Das ist die Story vom Laborgymnasium in Weit im Winkl, einer Schule, für die die Bezeichnung Schülerschule tatsächlich zutrifft. Wäre doch einfach zauberhaft, wenn so etwas wirklich mal passieren würde.
Aber noch einmal ... die Laborschule in Weit im Winkl ist keine Blaupause für eine direkte Umsetzung ... sie versteht sich eine Zukunftswerkstatt für zeitgemäße Bildung und für eine Möglichkeit, Blickwinkel auf Lernprozesse zu verändern.
Vertiefungen
Zur Grundlage 1: "Jeder Mensch kann selbstbewusst seinen adäquaten Platz" Soll heißen: Weit im Winkl musste zwangsläufig die gesamte Erziehungsabfolge Elternhaus-Krabbelstube-KiTa-Kindergarten-Grundschule-Laborschule in ein Gesamtkonzept packen. Die Idee war klar und funktionierte sehr schnell. Schon im dritten Jahr nach der Abkopplung von Stuttgart und im zweiten Jahr der Neuntklässler-Outdoor-Learning hatte man genügend fähige Jungmultiplikatoren dieses Gesamtkonzepts, dass man den Arbeitsbereich "Pädagogische Regio-Vernetzung" für Neuntklässler/innen anbieten konnte. Mit durchschlagendem Erfolg. Denn während in den normalen Gymnasien Neuntklässler als schwierig beschulbar gelten, nannten die Weit im Winkler ihre Neuntklässler/innen bald liebevoll den "Turbojahrgang". Hier wurde das Prinzip, Schüler/innen ernst zu nehmen, nicht mehr in Frage gestellt, weil sie im Berufsleben außerhalb der Schule vollautomatisch ernst genommen werden mussten. Sie entwickelten sich sehr schnell zum Aushängeschild der kleinen Grenzregion. Denn sie waren natürlich auch erkennbar an ihren bunten Shirts, die sich jeder Jahrgang neu entwickelte. "NEUN, was sonst" prangte selbstbewusst auf einem Logo. Oder "NEUN rockt Weit im Winkl" auf einem anderen. NEUN traf man im Kindergarten und im Altersheim, im Supermarkt und im Straßenbau, in Designbüros und im Krankenhaus, im Rathaus wie im Sportverein ... und auch in der Schule selbst - als Lehrer für die Kleinen ... kurzum: Die NEUN hinterließ echte Spuren. Und da man schon im zweiten Jahr nach der Abkopplung auch die Werkrealschule und die Realschule "eingepackt" hatte, weil das Konzept alle überzeugte und die Neuner das Übrige taten, war die Laborschule zwei Jahre nach der ersten Abkopplung schon zweizügig und damit waren es jedes Jahr gut 50 junge dynamische Menschen, die in der Gemeinde zeigten, zu was junge Menschen fähig sind, wenn man sie fordert und lässt.
Zu Grundlage 2. Menschen entwickeln sich unterschiedlich schnell...... ja hier ergab sich im Rückblick die wahrscheinlich allergrößte Veränderung im Laborgymnasium verglichen mit dem alten Schiller. Da es nur noch ein einziges Bildungssystem in diesem abgelegenen Winkel am Ländlesrand gab, entfielen Dinge wie : Wann genau einschulen? Gymi oder Realschule oder Werkrealschule? Enderle und Rütli hatten zusammen mit einem 24köpfigen Entwicklungsteam aus allen Schulen inklusive Kindergarten gehirnt und geplant, was das Zeug hielt. Denn allen war klar: Schnitzer durfte man sich nicht leisten, sonst wäre ihr Traum schnell geplatzt. Man brauchte zufriedene Eltern, zufriedene Schüler und zufriedene Lehrer. Und zwar 100%. Alle mussten dicht halten und am Ende mit dem Abschluss zufrieden sein, auf den es in diesem System dann hinauslief. Aber da die Quote der Abiturienten schon nach 4 Jahren bei 50% lag und den Hauptschulabschluss eigentlich nur noch diejenigen machten, die schon erfolgreich in der 9. Klasse ihr berufliches Glück außerhalb der Schule gefunden hatten - das waren pro Jahrgang immer nur ein oder zwei Schüler und alle anderen machten die mittlere Reife - war in kürzester Zeit allen klar: Diese Idee des individuellen Lerntempos vom Kindergarten an hatte nur Bildungsgewinner. Halbe Halbe Abi und Mittlere Reife und keinen einzigen Schüler in den ersten 15 Jahren, der am Ende keinen soliden Abschluss hatte, das war sensationell. Wie gerne hätten es die Weit im Winkler in die Welt posaunt. Aber da war man sich selbst einfach näher als der Welt. Der Schwur der Randregion, nichts aber auch gar nichts nach außen dringen zu lassen, hielt, als wäre es ein echtes Gesetz, das man bei hoher Strafe nicht übertreten durfte.
So kam es, dass man in Weit im Winkl einen ganz anderen Blickwinkel auf Bildung nehmen konnte. Erst wenn das Interesse da ist, lohnt es sich, das Thema anzugreifen.
2b) "Schatzsuche" nannte sie die Kurse, die sich nur damit beschäftigten, bei den jungen Menschen Interesse für ein Fach zu wecken. Vor jedem größeren Kapitel gab es eine Runde Schatzsuche. Und erst wenn die Schüler/innen selbst signalisierten: "Bin bereit", dann konnte man das nächste Kapitel angehen. "Wissensnetz" nannten sie das Geflecht von einzelnen Kapiteln, das es zu erarbeiten galt. An den Inhalten konnten sie wenig ändern, immerhin waren sie von den zentralen Abschluss-Anforderungen abhängig. Seit man "Schatzsuche" eingeführt hatte, waren die Inhalte für die meisten kein wirkliches Thema mehr. Allen war das Prinzip klar: Ich muss meinen Schatz heben, dann das Wissensnetz durchlaufen, um am Ende meinen schulischen Abschluss erfolgreich zu erreichen. Da es keine festen Jahrgänge mehr gab, sondern nur noch einzelne Kapitel innerhalb des Wissensnetzes, die man mit dem großen OK-Stempel abschließen musste, um sich ans nächste Kapitel zu machen, hatte jeder Schüler sein eigenes Lerntempo. Wählte sich immer ein zeitlich passendes Kapitel, das in dem jeweiligen Fach dran war, um weiterzuarbeiten. Die praktische organisatorische Umsetzung hileten zuerst die meisten für völlig unmöglich, war aber durch Einbindung jedes Lernenden in ein eigenes digitales Portfolio am Ende viel leichter umzusetzen, als das selbst die Befürworter gedacht hatten. Im Portfolio wurde immer der Lernfortschritt abgebildet ... die Verteilung auf entsprechende anstehende Facheinheiten wurde von der Software umgesetzt, die von einer Gruppe IT-affiner Schüler*innen betreut und kontinuierlich weiterentwickelt wurde.
In der Mitte von Klasse 8 gab es die große Prüfung für alle und zwar in allen Fächern. Auch sie wurde nicht vom jeweiligen Lehrer abgenommen, sondern es war eine standardisierte Prüfung, anhand der man einsehen konnte, wo der aktuelle Stand des Schülers war. "Karten aufdecken" nannte man diesen Prüfungs- und Beratungsmarathon, der dazu diente, die nächsten Schritte vor, in und nach NEUN zu besprechen. Man konnte übrigens auch während NEUN in Form von Abendkursen im Wissensnetz aufholen, falls man genügend Energie aufbringen konnte. Für manche war genau dies eine wesentliche Erfahrung ihrer Leistungsfähigkeit.
Zu Grundlage 3: Die Pubertät wird nicht mehr als störende Entwicklungszeit wahrgenommen,.....
immerhin kennt man ja seit Jahren die Zusammenhänge aus der Gehirnforschung. Mit dem Blickwinkel "auch ein Schüler ist ein ganz normaler Mensch", der für sein Wissensnetz verantwortlich ist und auch schon in der 5. Klasse verantwortlich sein kann, konnte man auch mit anderen „Störungen“ einfacher umgehen. Schüler, die sich meist schon in der Grundschule nicht an ganz normale Regeln halten konnten, nannte man Rohdiamanten und machte ihnen klar, dass sie erst durch den Schliff in einer Spezialgruppe ihre echte Leistungsfähigkeit fahren würden. "Old School" nannten die Lehrer/innen schmunzelnd diese Abteilung und da auch dort ein ganz anderer Blickwinkel auf Schüler herrschte, waren die jungen Wilden in diesem sehr eng geführten und strengen System alter Schule gut aufgehoben. Das Hauptziel bestand natürlich in "Old School", die Schüler/innen möglichst schnell Richtung Laborschule zu bringen - in Insiderkreisen eher "Café L" genannt, weil das dortige Arbeiten eher einem Kaffeehausbesuch mit Wissensvermittlung glich als dem alten System von Zimmern, in die man morgens als Schüler/in hineingeht, um sie nach sechs Stunden erschöpft wieder zu verlassen. Das L im Café L stand für Leistung, Lust, Leben, Lernen, Lob, Luxus, Lift, Luft, Lehren und vieles mehr. In Schülerkreisen hieß es das Café Lässig.
Zu Grundlage 4: Ein junger Mensch kann problemlos in der 11. Klasse Englisch und Geographie-Abitur machen,.....Ja das war wirklich sehr neuartig. Man hatte einen rechtlichen Trick herausgefunden, der dies ermöglichte. In Absprache mit der Uni in Basel aber auch mit zwei Fachhochschulen konnten "Halbabiturienten" mit Spezialfähigkeiten schon einmal als Studenten richtig loslegen und die fehlenden Fächer im Eigenstudium nachholen. Klar gab es auch Kompaktkurse, um Externe auf das Abitur in einem Fach vorzubereiten. Da die Erfahrung zeigte, dass das Gefühl, Student zu sein, viel Selbstbewusstsein lostreten konnte, waren sich die Professoren der Hochschule auch bald einig, dass sie selten solch hochmotivierte Anfangsstudenten hatte wie die Halbabiturienten vom Café L. In 15 Jahren wurde kein einziger Fall bekannt, bei dem dieses Prinzip der Weit im Winkler Abitursentzerrung schief lief.
Zu Grundlage 5: Die Verquickung von Schule und Gesellschaft findet so oft wie möglich statt....."
Mit ihrem pädagogischen Spezialfinanzierungsprinzip lösten die Weit im Winkler viele Probleme. Die normalen Gelder aus Stuttgart flossen nach wie vor, aber die waren eben dauernd auf Minimum und Sparen gestrickt. Aber mit jährlich gut 50 NEUNern, deren Arbeitseffekt man in den umliegenden Betrieben schnell als 1000€+ betrachtete, war der Hit. Jeder Laborschüler verdiente im 9. Schuljahr 1000€ für die Schule und 100€ Taschengeld für sich. So stand es im Schulvertrag. Mit diesen gut 500 000 € im Jahr konnte man problemlos Fachleute für Einzelprojekte an die Schule holen. 25 € war der übliche Stundensatz und viele verrichteten auch ganz darauf, weil ihnen die kurzfristige Arbeit als Lehrperson richtig gut tat. Den Satz "Was, du hast noch nie im Café L gejobbt?" hörte man in den ersten Jahren oft und dann immer seltener. Irgendwie war es so normal geworden, dass sich z.B. ein Betriebswirt, der gerade von einem Wirtschaftsprojekt kam, noch mal schnell beim Thema Integralrechnung reinsetzte, weil er da spätes Interesse dran hatte. Eine komplette Win-Win Situation.
Und mittelständische Betriebe hatten in Weit im Winkl keine Nachwuchsprobleme.
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Die neue Lehrerrolle
In den ersten beiden Jahren war es schwer für manche Kolleg/innen, sich in die neue Rolle hineinzufügen. Man war es gewöhnt, sein Klassenzimmer zu schließen, seine feste Zahl an Schüler/innen einer Klasse zu unterrichten und am Ende selbst für die Benotung verantwortlich zu sein. Jetzt wurde man echter Dienstleister in Sachen Englisch, Mathe oder Geschichte und die Schüler/innen waren für ihren Wissenszuwachs selbst verantwortlich. Manchmal hatte man nur 5 Schüler und manchmal waren es dann wieder 30. Manchmal bekam man Aufträge aus einem Schüler&innen-Team, mit denen man diese Gruppe versorgen sollte und manchmal wurde man nur für einen Zehnminutenvortrag gebucht. Manchmal standen da ein paar Zehntklässler&innen, die sich auf eine eigene Lehrstunde vorbereiten lassen wollten und manchmal sollte man das Konzept eine Schülerunterrichtseinheit begutachten. Man spielte als Lehrer viele verschiedene Rollen. Das „übliche“ Unterrichten war die kleinste geworden. Koordinieren von Prozessen nahm eine große Rolle ein. Aber dafür hatte man sich in der Laborschule auch genügend Zeit gelassen. Die Lehrer/innen selbst mussten sich wohl fühlen. Mussten das System komplett mitentwickeln. Mussten die Prozesse verstehen lernen. Keine Uni hatte sie auf solche neuen Situationen vorbereitet. Erst 2020 gab es die erste Hochschule für agile Bildung in der Schweiz. Da man meist sowieso mit Kollegen, Fachleuten von außen oder älteren Schüler/innen Lernprozesse begleitete, war dieses Einzelkämpfertum Geschichte geworden. Und plötzlich blühten auch diejenigen Lehrer auf, die in früheren Zeiten für Schüler als die schlechteren Pädagogen galten, weil sie nicht so gut motivieren konnten wie andere Kollegen. Denn die Zeiten, in denen der Lernfortschritt eines Schülers zu einem großen Teil von seiner Akzeptanz des Lehrers abhing, war durch die allgemeine, emotionale und hohe Akzeptanz des gesamten Systems abgelöst worden. Die einzelne Lehrerpersönlichkeit spielte nicht mehr diese große Rolle und das war gut so. Denn endlich war die viel zu hohe Erwartungshaltung an die Brillanz eines Lehrers der Erwartungshaltung an ein System gewichen. Und das System Café L konnte die Erwartungen 150% erfüllen.
"Und das alles ohne Selbst- und Fremdevaluation?" sagte im Jahre 2028 verwundert so mancher Schultheoretiker, als der Schwindel aufgeflogen war. "Evaluieren," sagten die Weit im Winkler, "tun wir doch jeden Tag. Wer so eng zusammenarbeitet wie wir kommt ohne dauernde Prozessbegleitung doch gar nicht aus."
Fortsetzung folgt
Heinz Bayer / Veronika Lévesque
Und übrigens: Wir sind in Weit im Winkl natürlich offen für Ideen aller Art. Deshalb: Wer meint, er oder sie habe noch einen wichtigen Aspekt im Kopf, der in Weit im Winkl umgesetzt werden sollte, bitte schicken. Wir werden alles sorgfältig prüfen. Und einbauen. Schule neu zu denken lohnt sich für alle. Ideen an otto.kraz@aufeigenefaust.com