Mathe agil

 

Liebe Leser/in. Gehen Sie selbst einmal in sich. Wie war das damals in Mathe? Gehören Sie auch zu denen, die tief innen drin dieses mathematische Ohnmachtsgefühl aus der Schulzeit noch immer mit sich herumtragen? Dieses kleine Schämen, dass man diese Mathe damals oft überhaupt nicht geblickt hat? Dieses innere doofe Unwohlsein, wenn Sie auch heute noch im hohen Alter einen Mathelehrer treffen? Diese Hilflosigkeit, wenn Sie an Mathe in der Mittelstufe denken? Obwohl das doch so lange her ist? Wenn Sie nicht zu denen gehören, die sich beim Stichwort Mathematik und Schule irgendwie klein fühlen, dann seien Sie froh.

 

All die anderen würde ich gerne von dieser vollkommen unnötigen Last befreien, die einzig und allein daher kommt, weil Sie in einer normalen Schule in einen normalen Matheunterricht gegangen sind und nicht in eine agile Schule mit einem agilen Matheunterricht.

Ich saß vor kurzem beim Bier neben einem Juristen, der nicht wusste, welche Fächer ich unterrichtet hatte. „Mathe und Physik.“ Und dann das übliche: „Oh je, in Mathe war ich schlecht in der Schule.“ Übrigens ändert sich häufig die Körperhaltung, wenn erwachsene Menschen Mathelehrern begegnen. Die kleine Ohnmacht kriecht bei vielen vollautomatisch in das sich erinnernde Blickfeld. Ich habe meinen üblichen Spruch von oben losgelassen. Wir kamen ins Gespräch über seinen Job. Ein Jurist, der für seine Firma zu 90% seiner Arbeitszeit komplexe Organisationsstrukturen erkennen, begreifen und entwickeln soll. Der unentwegt logische Strukturen überblicken und effektiv für seine Firma optimieren muss. „Mathematik in Reinform“ hielt ich ihm entgegen. „Was du als Jurist – wie ich höre ziemlich erfolgreich – beruflich gerade machst, ist pure Mathematik. Und du erzählst mir, dass du schlecht in Mathe warst? Hast du denn wenigstens das Gefühl, jetzt gut in Mathematik zu sein?“ Natürlich hatte er dieses Gefühl überhaupt nicht. Weil er die normale Schule mit dem normalen Matheunterricht durchlaufen hatte und dort hatte er irgendwann in der Mittelstufe den Durchhänger. Wie so viele dort den Durchhänger haben. Pubertät, Lehrer, Liebeskummer, Pear-Group, Stress zu Hause, Ehrgeiz&Frust undsoweiter undsoweiter …. suchen Sie für sich selbst was Passendes aus. Tausend Gründe. Dann entstehen natürlicherweise Lücken. Mit Lücken z.B. beim Umstellen von Gleichungen („niedere“ Mathematik) haut es einem aber jede Aufgabe in der höheren Mathematik um die Ohren. Logische Folge: Schlechte Noten. Also nicht „Ich bin eben schlecht in Mathe,“ sondern „Ich habe mir leider pubertäre mathematische Lücken im Kopf zugezogen und konnte dann meine mathematischen Fähigkeiten nie mehr zur Wirkung bringen. Notenmäßig. Obwohl ich vielleicht mathematisch ziemlich stark ticke.“ Ich wette, die allermeisten von Ihnen haben in der Schulzeit nie bewusst nach Lücken geforscht, um sie logischerweise zu schließen.

 

Im idealen agilen Mathematikunterricht entstehen diese Lücken nicht. Was natürlich nicht heißt, das jeder ein Mathe-Käpsele wäre, wie der Schwabe sagt. Aber erst ohne Lücken erkennt man seine echten mathematischen Fähigkeiten. Agile Mathematik setzt auf eigenständige Auseinandersetzung mit der mathematischer Landschaft, die sich vor einem Erstklässler eröffnet, sobald er in die Welt des „5 plus 3“ eintaucht. Oder dann des „5 plus 9“.  Au Backe, erinnern Sie sich? Der Schritt über die Zehn hinaus? Dezimalsystem? Stellenwertsystem? Machen Sie heute locker, ohne drüber nachzudenken. War aber mal richtig schwierig für Ihren Kopf. Man durfte ja die Finger nicht mehr benutzen.

 

Agile Mathematik ist ein wenig wie die Vision von Khan mit seiner Khan Academy.

 

https://upload-magazin.de/blog/5998-salman-khan/

 

KEINE LÜCKEN ZULASSEN. That‘s the point. Agil lernen. Khan beschreibt es bildlich: Der normale Matheunterricht ist so, als würde man einem Kind ein Fahrrad erklären, um zwei Wochen später abzuprüfen, wie gut es fahren kann. Anstatt so lange zu trainieren, bis es eben fahren kann. Agiles Lernen setzt auf LÜCKENLOSE Mathematik. Und auf das „Sich selbst um seine mathematische Grundlagenbildung kümmern.“

 

Ich weiß, für Sie kommt die Erkenntnis zu spät. Die Sache ist gelaufen. Ich hoffe, Sie nehmen es leicht. Und bitte nicht nachträglich auf Ihre Mathelehrer sauer werden. Agile Mathematik im nichtagilen Schulumfeld – das ist höchste Kunst. Aber vielleicht haben Sie ja Kinder. Zeigen Sie Ihnen doch mal das obere Bild.

 

Auf alle Fälle könnten Sie nach diesem Artikel doch zumindest Ihre eigene kleine mathematische Ohnmacht endgültig entsorgen. Falls Sie sie besitzen, wie so viele sie eben besitzen, diese kleine unnötige Ohnmacht aus Ihrer Schulzeit, die immer wieder behauptet, sie wären irgendwie schlecht in Mathematik.

 

Otto Kraz

 

p.s. Ich vertiefe das Ganze für Sie auch noch mit Hattie im Rucksack. In der weltweit größten Bildungs-Metastudie von dem australischen Bildungsforscher John Hattie findet man das Prinzip LÜCKENLOSE Mathematik an zweiter Stelle der Effektstärkenliste unter den 252 Faktoren, die Hattie unter die Lupe genommen hat.  Heißt natürlich nicht LÜCKENLOS, sondern „self-reported grades“ https://visible-learning.org/hattie-ranking-influences-effect-sizes-learning-achievement/ und bedeutet „Selbstbeurteilung der Schüler/innen“ oder „Einschätzung der eigenen Lernleistung“. https://visible-learning.org/de/glossar-hattie-begriffe/ In Sachen LÜCKENLOSE Mathematik bedeutet es: Ich muss die mathematischen Bausteine kennen, auf die ich mich verlassen kann und meine Lücken kennen, die ich füllen muss. Weil ich ja keinen Bock drauf habe, zum Beispiel in der 10. Klasse in Physik keine Aufgabe richtig rechnen zu können, nur weil ich in Sachen Umstellung einer Gleichung aus Klasse 7 in Mathe eine dauerhafte Lücke mit mir herumtrage.

 

p.s. Noch ein mathematischer Nachtrag samt Krazeleien zum Thema „252 untersuchte Faktoren und ihre Effektstärken.“

 

Zum Verständnis für Nichteingeweihte: „Die durchschnittliche Effektstärke aller von Hattie untersuchten Faktoren beträgt etwa 0,4.  “Häää, 0,4? Muss ich das verstehen?“ fragen sich jetzt sicher viele. Ich versuche es knapp: Angenommen Sie wären Mathelehrer und die Verteilung der Punkte bei einer Ihrer Standard-Klassenarbeiten sähe üblicherweise aus wie in nachstehender Figur.

 

 

Man nennt das die Normalverteilung. Der Abstand von der Mitte bis zum mathematischen Wendepunkten dieser Kurve (wenn die Kurve von immer steiler zu immer flacher übergeht) nennen wir Mathematiker die Standardabweichung. Spielen wir einmal durch, was passieren würde, wenn Sie den Fokus Ihres Unterrichtseinsatzes auf einen Hattie-Faktor mit der Effektstärke von 0,5 auf der Hattie-Skala legen würden – zum Beispiel das „Unterstreichen und Hervorheben“ für Ihren Unterricht konsequent als neues Prinzip einführen würden, während Sie vorher darauf überhaupt keinen Wert gelegt hätten. Wenn Sie also von unstrukturiertem Unterrichtsablauf auf strukturierten Ablauf wechseln würden, dann sagt die Studie, dass die Ergebnisse Ihrer neuen Standard-Klassenarbeit mit ihrem Mittelwert um die Hälfte der Standardabweichung verschoben würde, wenn man es bildlich übersetzt. (Die nächsten zwei Bilder).

 

 

Natürlich unterrichtet der normale Mathematiklehrer keinen komplett unstrukturierten Einheitsbrei, ohne dass seine Schüler/innen wissen, was wichtig ist und was nicht. Aber nicht bei jedem Lehrenden kommen diese Strukturen aus seinem Lehrerkopf auch bei den Lernenden an. Sagen wir es einmal so. Jeder weiß intuitiv, dass bewusstes „Unterstreichen und Hervorheben“ im Unterricht von wirklicher Bedeutung sein kann. Nichts anderes sagt die Studie mit der Effektstärke von 0,5 für „underligning and higlighting“.

 

 

Das zumindest ergeben die Statistiken aus Millionen von Schülerleistungsdaten weltweit, die das Team von John Hattie aus einer riesigen Menge von Einzelstudien zusammengetragen hat. D=1,5 ist übrigens die höchste Effektstärke.

 

Übertragen wir diese Überlegung doch einfach mal auf Sie und ihre früheren mathematischen Leistungsnoten. Nennen wir Sie Paul, der immer dieses 4+ Feeling in Mathe hatte. Sie sind also ausgestattet mit diesem „Eigentlich verstand ich das Ganze ja, aber die Noten waren trotzdem doof“-Gefühl. Hätten Sie damals in einem agil aufgestellten Unterricht gesessen, in dem Sie durch entsprechendes regelmäßiges Feedback zu einer guten Selbsteinschätzung der eigenen Lernleistung mit der Effektstärke 1,33 gekommen wären, dann wären Sie als Paul in den Zweierbereich vorgerückt. Das „Eigentlich verstehe ich es ja“ wäre durch konsequentes Füllen der Lücken real geworden. Was für ein schöner Traum.

 

Was ich Ihnen als alter Mathepauker einfach sagen will: Sagen Sie als Paul nie mehr, Sie wären schlecht in Mathematik gewesen. Denn: Sie haben einfach nur schlechte Noten geschrieben. Ansonsten wissen Sie es einfach nicht, was mathematisch in Ihnen steckt. Und wenn Sie das nächste Mal einen Mathelehrer treffen, zucken Sie nicht verschämt zusammen, sondern sagen Sie ihm doch einfach: „Möglicherweise wäre ich ja auch Mathelehrer geworden, wenn meine früheren Mathelehrer und -innen agil unterrichtet hätten…“