... im Haus zum platzenden Knoten
oder Die Tiny-Wings-Methode und die Sache mit der Agilität.
Ich soll hier auf dem Blog des Forums agile Verwaltung den Part übernehmen, das agile Denken auch für das Lehren und Lernen Stück für Stück aufzuarbeiten. Als alter Schulmeister, der 35 Jahre lang Physik und Mathematik unterrichtete und das Glück hatte, viel ausprobieren zu dürfen. Speziell auch außerunterrichtlich. Agilen Schulleitungen sei Dank. Deren Motto: Raum lassen. Zulassen. Vertrauen. Ungewöhnliche Wege von Lehrpersonen aushalten lernen. Und nun habe ich gerade eine alte Datei gefunden, die wir damals mit einem digitalen Rundbrief-pdf an unsere Eltern geschickt haben, um ihnen das Faust-Gymnasium in Staufen und die vielen Facetten des Lernens in dieser Lehranstalt näher zu bringen. Faust-aktuell – eine gute Möglichkeit, mit einem Klick alle Eltern zu erreichen. Ich lasse Sie erst einmal ein wenig hineinlesen. (Zur Erklärung: Flügelverleih haben wir damals die kleine Nachmittagsschule für unsere Fünft- und Sechstklässler getauft, die im Flügel von einem speziellen Schülerkollegium älterer Schüler/innen betreut wurden.)
„Stimmt, Sie haben recht. Wir betreuenden Lehrer/innen vom Flügelverleih am Faust lieben die etwas anderen Namen. Weil es dann einfacher ist, pädagogisches Neuland ohne spezielle Erwartungen von außen zu betreten. Nachhilfe – da hat jeder eine Vorstellung, wie sie abläuft. „Den Bahnhof verstehen“ hieß deshalb im letzten Jahr unsere Spezial-Flügelverleih-Nachhilfeschule, in der sich Schüler/innen am Nachmittag allein oder in kleinen Gruppen in verschiedenen Fächern coachen lassen konnten. Neuland. Spontannachhilfe. Klassenarbeitsvorbereitungsnachhilfe. Schwierige Mathehausaufgaben-mit-Unterstützung-lösen“-Nachhilfe. Wir hatten an zwei Tagen einen Überhang an Lerncoaches in der Nachmittagsschule. So entstand diese Idee. Kapazitäten waren frei. Zweites Halbjahr. Als es für manche brenzlig wurde. Auch unsere erste Skype-Ferienschule entstand in diesem Zusammenhang. Pfingsten 2012. Ferienlernaktive Schüler/innen konnten sich anmelden, um ein spezielles Problem von einem der Skype-Coachs erklärt zu bekommen, mit dem sie sich gerade herumschlugen und keine Antwort fanden. Arbeiten nach dem Tiny-Wings-Prinzip aus dem Hause Flügelverleih. Das war auch Grundlage beim „Den-Bahnhof-verstehen“. Tiny-Wings-Prinzip? Sagt Ihnen nichts? Tiny Wings ist ein kleiner Vogel, der noch nicht so richtig fliegen kann. Eine Spiel-App aus dem Apple Store. Ein einfaches kleines Spiel, das 2011 zum Spiel des Jahres gekürt wurde. Es funktioniert ganz einfach. Man muss einem kleinen Vogel, der einen Tag lang versucht, möglichst weit zu fliegen und dabei möglichst viele wertvolle Dinge mitzunehmen, durch Unterstützung helfen. Unterstützen heißt, den Bildschirm berühren. Dann zieht er seine kleinen Stummelflügel ein und überlässt sich der Gravitationskraft und dem Spieler. Löst man die Berührung, flattert er wieder selbst.
Die Kunst, an einem Tag möglichst viele Punkte zu bekommen und möglichst weit zu fliegen, besteht darin, immer im richtigen Moment kurz zu unterstützen, um den Vogel dann selbst fliegen zu lassen. Die TINY-WINGS-METHODE im „den Bahnhof verstehen“-Projekt funktionierte genauso. Nachhilfe ist aus unserer Sicht nur dann sinnvoll, wenn man genau weiß, an welcher Stelle sie ansetzen muss. Punktgenau. Nicht andauernd. Wenn man bei Tiny Wings dauernd den Daumen auf den Bildschirm legt, bekommt der kleine Vogel zwar ein wenig mehr Punkte als wenn man ihn den ganzen Tag lang alleine den Berg herunterflattern lässt, aber es ist überhaupt kein Vergleich zum gezielten Unterstützen. Das gezielte Unterstützen besitzt vollkommen andere Erfolgsaussichten. Dauernde Nachhilfe bringt im Allgemeinen einfach nur Beruhigung, kein Tiny-Wings-Gefühl. Das Tiny-Wings-Gefühl ist das Erfolgsgefühl eines kleinen Vogels, der merkt, dass er eigentlich selbst schon ganz schön viel kann. „Ich nehme jetzt Nachhilfe“ hören wir so oft von Schülerinnen und Schülern, die dann im Unterricht und bei den Hausaufgaben den Kampf um die eigene Kompetenz weiter reduziert haben, weil… „sie nehmen ja jetzt Nachhilfe.“ Oftmals ist Nachhilfe sogar Noten verschlechternd, weil sich Schüler am Ende ganz auf den Nachhilfeunterricht verlassen und im Unterricht gar nicht mehr richtig aufpassen.
Deshalb: Die TINY-WINGS-METHODE setzt auf sehr viel Eigeneinsatz mit möglichst minimaler Lerncoachbegleitung. Wenn man bei Tiny Wings, ohne zu wissen, wann man unterstützen muss, auf den
Bildschirm drückt, also sporadisch, dann hat der kleine Vogel übrigens auch keinen Erfolg. Zu erkennen, an welcher Stelle die Unterstützung notwendig war, war Aufgabe der Bewerber beim „Den
Bahnhof verstehen“-Projekt des Flügelverleihs im Haus zum Platzenden Knoten. … Ja man musste sich bewerben, aktiv …“
Ich erinnere mich noch gut an dieses eine Jahr mit den viel zu vielen Lerncoaches. Und die Idee des Bahnhofs, die ein Schüler/innenteam ausgetüftelt hatte. Heute würde ich im Rückblick sagen, der Flügelverleih war an sich ja schon von Anfang an hochagil … eine Sache der Haltung, der Augenhöhe. Und ein großes Experiment mit dauernder kleinschrittiger Anpassung an neue Gegebenheiten. Eine sehr befriedigende Zusammenarbeit mit den Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen, Personalleiter/innen … der Zukunft, um gemeinsam optimale Betreuungsstrukturen zu entwickeln, von denen wir vorher nicht wussten, wie sie am besten funktionieren würden. Am Anfang waren bis zu 80 Lerncoaches auf fünf Tage verteilt. Eine starke Truppe mit eigenen pädagogischen Abenden und einem wöchentlichen kurzen Stand-Up vor der eigentlichen Betreuungszeit. Während die Kleinen nebenan eine Spielrunde absolvierten.
Ich habe diese Flügelzeit als Lehrer genossen, weil wir ohne Vorgaben mit Schüler/innen als Kolleg/innen zusammenarbeiten konnten. Das Konzept ist nicht direkt auf den Unterricht übertragbar, die Denkweise schon. Schüler/innen sind ganz normale Menschen, nur im Moment noch ziemlich junge. Aber ohne Frage die Fachleute der Zukunft. Wer sie nicht aktiv in den Lernprozess mit einbezieht, der verschenkt sehr viele Entwicklungsmöglichkeiten. Lässt Kompetenzen ungenutzt. Und verzichtet ganz nebenbei auf einen hohen Zufriedenheitsfaktor als Lehrperson.
Tiny Wings sollte dauernd in Schülerköpfen sein: Möglichst viel selbst fliegen. Und ebenso in Lehrerköpfen: Möglichst viel selbst fliegen lassen. Weil das am Ende die höchste Punktzahl ergibt.
Heinz Bayer
p.s. Hier mehr zur Tiny Wings Methode zum Download als pdf