Offener Brief an die Kultusministerin

Sehr geehrte Frau Kultusministerin,

Ich bin nun seit fast zwei Jahren aus dem aktiven Schuldienst ausgeschieden … und eine meiner letzten größeren Amtshandlungen als Abteilungsleiter für Schulentwicklung am Faust-Gymnasium in Staufen war die Koordination der ersten Fremdevaluation an unserer Schule.

Hiiiilfe … was für ein riesiger Zeitaufwand. Viele der Aktivsten meiner Kolleginnen und Kollegen waren monatelang für andere Aktivitäten blockiert. So viele Sitzungen, so viele Überlegungen, so viel Einsatz …

 

Und alles, um am Ende zu erfahren, was wir als aktive und recht innovative Schule natürlich schon vorher wussten: Unsere starken Seiten hatten wir nun schwarz auf weiß als exzellent begutachtet bekommen, und unsere Schwächen wurden als verbesserungswürdig gekennzeichnet. Auch die kannten wir allerdings schon vorher. Und wir haben mit großem Aufwand ein riesiges Portfolio im Intranet erstellt, in dem man nun vieles nachlesen könnte, wenn man etwas wissen will.

Die Praxis ist allerdings eine ganz andere. Denn natürlich fragt man in der Realität normalerweise die richtigen Kollegen beim Kaffee und bekommt die Infos viel direkter auf die  aktuelle Situation bezogen. Angepasst. Agil. Individuell. Konkret. Die Arbeitsfelder, in denen wir Ihrem Ministerium versprochen hatten, bis zur nächsten Fremdevaluation in ein paar Jahren „anzugreifen“, lagen natürlich in Bereichen, die uns als Schulleitung machbar erschienen. Also nicht  lokalisiert im größten, zentralen und entscheidenden Arbeitsfeld von Schule: Dem Fachunterricht der einzelnen Kolleginnen und Kollegen. Wir suchten einfacher evaluierbare Themen. Ich würde meinen, dass das fast alle Schulen so machten. Obwohl die meisten genau wissen, dass sich ihre Schule dadurch nur unwesentlich verändern wird. Aber Auftrag ist Auftrag und als Beamter setzt man das einfach um. Darauf haben wir immerhin den Eid geleistet.

Nun haben Sie die Fremdevaluation erst einmal auf Eis gelegt, weil Sie die Evaluationsberater/innen wieder in den Unterricht schicken wollen. 70 Deputate würde das ausmachen, habe ich gelesen. Ich wage zu behaupten, dass sich keine Schule bei Ihnen darüber beschwert hat. Ich selbst meine auch: Gut so. Aber bitte: Legen Sie die Fremdevaluation nicht nur auf Eis, um dann später weiterzumachen wie bisher. Ich würde den Schulen in Baden-Württemberg wünschen, dass Sie bei der Evaluation auf Reset drücken könnten. Die Evaluation gehört angepasst und auf die Füße gestellt. Sie sollten aus den freiwerdenden Stunden nicht nur Deputate basteln, um Lücken zu stopfen, sondern zumindest mit einem Teil der Berater echtes Evaluations-Neuland betreten. Sie sollten Selbstevaluationsmöglichkeiten für Lehrende mit modernen Inhalten füllen und diese den Schulen anbieten. Zur Unterstützung von echter Schulentwicklung. Nicht zur Überprüfung eines in sich sehr starren Systems.

 

Ich habe mich nach meiner Pensionierung in der Schweiz in Sachen direkte Selbstevaluation im Unterricht weiterbilden lassen. LUUISE … Lehrpersonen unterrichten und untersuchen integriert, sichtbar und effektiv …. Sie werden davon gehört haben. Immerhin wurde diese Weiterbildung auch inzwischen von Ihrem Ministerium für einige Kolleg/innen aus dem Berufsschulbereich gebucht. Ein lohnender Schritt. Eine Methode, kleinschrittig, angepasst, veränderbar, individuell, mitten im Unterricht angesiedelt …

Und – ich habe in der Schweiz eine Schule kennengelernt, in der alle Kolleg/innen in jedem Schuljahr ein kleines LUUISE-Projekt oder ein anderes kleines agiles Projekt ausprobieren (müssen) und es dann auf dem schuleigenen pädagogischen Marktplatz vorgestellt haben. Jeder gibt dort einmal im Jahr einen Einblick in seine eigene kleine Selbstevaluation und seine eigene Unterrichtsentwicklung. Ein pädagogischer Austausch der Superlative, völlig unaufgeregt und vielfältig ohne Ende. Genuss pur für einen, der als Schulentwickler an seiner eigenen Schule meist nur über Schüler/innen aus dem Kerngeschäft seiner Kolleg/innen erfahren hat.

Formative Evaluation des Unterrichts heißt es bei Hattie. Diese Selbstevaluation tut gut, ist effektiv und lässt sich agil an die Gegebenheiten einer Klasse anpassen. In der Hattie-Studie steht sie an dritthöchster Position in der Rangliste für erfolgreiches Lernen. Effektstärke 0,9. „Lernen sichtbar machen“ heißt Hatties Buch zur Studie.

„Lernen sichtbar machen“ ist auch die zentrale Aussage beim Selbstevaluationskonzept LUUISE, Lernen sichtbar machen taucht auch bei eduScrum auf. Bei einer Methode, in der Schüler/innen selbst zu den Hauptakteuren werden. Die Methode ist der IT-Branche entlehnt und setzt auf Agilität beim Lernen. Kleinschrittigkeit. Anpassung, Flexibilität. Quasi Luuise für Lernende. Es existieren inzwischen einige agile Ansätze, die auch auf Schüler/innen setzen. Auf Ausprobieren, verwerfen, neu aufstellen und weiterarbeiten. Und es werden mehr. Der agile Profi probiert kleinschrittig und setzt nicht nur Pläne um. Lässt den Lernenden selbst für sein Lernen Verantwortung übernehmen. Und setzt auf Augenhöhe. Aber Agilität im Unterricht verlangt nach agilen Schulstrukturen.

Ich bin überzeugt, dass wir in den nächsten 20 Jahren weltweit eine große Richtungsänderung im Denken um Schule und Lernen erleben werden. In dieser sich in rasendem Tempo verändernde Welt lassen sich auch Schulen nicht mehr mit schulischen Langzeitplänen und starren Schulhierarchien zukunftsfähig machen. Man muss auf die einzelnen Akteure setzen können und zwar agil, nicht in starren Grenzen. Die Zukunft benötigt alle guten Ideen. Wie schön wäre es doch, wenn Baden-Württemberg da vorne mitspielen würde.

Sehr geehrte Frau Ministerin, die Zeit ist überreif für wirkliche Veränderungen an unseren Schulen. Da schlummern Schätze in den Köpfen der Lehrenden und der Lernenden. Luuise, Scrum, Agilität, Hirnforschung, Studien und viele neue Erkenntnisse über Lernprozesse bevölkern die moderne Pädagogik. Aber Schulen werden nach wie vor geführt wie ein klassisches Unternehmen. Die Pyramide mit den Anweisungen von oben nach unten. Und die Spitze wird vom Ministerium auch noch überhäuft mit einer Unmenge an Aufgaben, die nichts mit dem zentralen Auftrag von Schule zu tun haben.

In der IT-Branche hat man schon lange gemerkt, dass dies nicht mehr zeitgemäß ist. Weil man damit kein Geld mehr verdient. Weil die Konkurrenz nicht schläft.

Auch an Schulen ist die pyramidenförmige Schulorganisation schon lange nicht mehr zeitgemäß. Gäbe es eine freie Konkurrenz unter Schulen und eine echte Eigenständigkeit der Schulen selbst, dann wäre die heutige Schule innerhalb kurzer Zeit ausgestorben. Weil die Eltern ihre Kinder nur noch auf die erfolgreicheren Schulen schicken würden, die es schaffen, die Kompetenzen von Lernenden und Lehrenden effektiver zu nutzen. Meine zentrale These: Das uralte Organisationsschema Schulverwaltung verhindert die Zukunft unserer Schulen.

Die Eigenständigkeit der Schweizer Schulen lässt zukunftskompatible Szenarien an einzelnen Schulen viel leichter zu – ein Genuss, das vor Ort beobachten zu können. Aber auch die Schweiz steht erst am Anfang.

Sehr geehrte Frau Ministerin, klar, ich weiß: Bei uns in BW ist das alles nicht so einfach. Die Tradition. Die ganze Schulverwaltung ist ein riesiger Dampfer, der seit vielen Jahrzehnten vor sich hinfährt. Politiker lassen das Schiff unentwegt unterwegs im Inneren umbauen, anstatt endlich zu bemerken, dass es die Fahrt-Richtung ist, die dringend geändert werden sollte.

In meinen 35 Jahren Gymnasiallehrerzeit habe ich Schulentwicklung „von oben“ meist unter den Aspekten Klassengröße – also Deputate und Lehrerzahlen – bzw. Lehrplanrevisionen – also fachliche Inhalte – erlebt. Und an der Schule selbst unter dem Aspekt „Methodik“, wie man Unterricht „besser“ machen kann. Damit die Schüler/innen mehr Spaß am Lernen haben. Man mag die Hattie-Studie  im Einzelnen kritisieren, die Gesamtaussage kann man aber definitiv nicht vom Tisch wischen. Klassengröße und Methoden gehören nicht zu den wesentlichen Faktoren für effektive Lernprozesse. Und darum geht es doch an Schulen. Genau darum. Selbstevaluation,  Selbsteinschätzung der Lernenden und die Beziehungsebene zwischen Lehrenden und Lernenden gehören dagegen zu den Faktoren mit den höchsten Effektstärken. LUUISE, Scrum&Co, Agilität, professionelles Ausprobieren zulassen durch eine wesentliche höhere Eigenständigkeit der Schulen, das ist meiner Meinung nach der Weg in die Zukunft der Schulen.

Dabei müssten Sie keine Angst vor zu hohen Kosten haben. Sie würden dabei auf die ungehobenen Schätze in den Köpfen von Lehrenden und Lernenden setzen … auf die hohe Effektivität von agilen Lernprozessen. Um die Richtung des Dampfers zu ändern, müssten Sie aktuell nur ein wenig an der Eigenständigkeitsschraube von Schulen drehen und als Aufsichtsbehörde das Vertrauen gewinnen, dass agile Verwaltung im Schulbereich keine Utopie sein muss. Der Tipp eines pensionierten alten Schulentwicklungshasen: Einfach mal mit einer Schule anfangen und bei der Entwicklung direkt zuschauen.

Und genießen.

Und vielleicht mit einem Teil der freiwerdenden Kolleg/innen aus der Fremdevaluation einen kleinen aber feinen Think Tank „Zukunft“ gründen.

Man würde Ihnen ein Denkmal setzen. 

Mit den allerbesten Grüßen aus dem Unruhestand

Heinz Bayer